Georg ging zu dem fremden Jungen, der ihn um mehr als einen Kopf überragte. Er hielt nicht an, als er ihn erreicht hatte, sondern schubste ihn so fest er konnte. Offenbar war er bereit für einen Kampf, das überraschte Anna. Er war so dünn – gegen das dicke Wiesel hatte er keine Chance. Der fremde Junge bewegte sich kaum, Georg hatte ihn nur ein bisschen zum Schwanken gebracht. Jetzt packte er Georg bei den Schultern. Das Grinsen war von seinem Gesicht verschwunden. Mühelos schob er Georg vor sich her zum Wasser, dann stieß er ihn von sich, so dass Georg nach hinten taumelte und ins Wasser fiel.
“Da, kühl dich ab!” rief er böse, ging zu Daniels Boot-Bündel, das am Ufer lag und zertrat es. Er trat solange darauf ein, dass keine Reparatur mehr möglich sein würde. Seine Freunde lachten, während Georg sich im Wasser aufrappelte. Er sah erbärmlich aus, die nassen Haare hingen wie ein Vorhang vor seinem Gesicht. Er strich sie zur Seite und stapfte aus dem Wasser.
“Du …” fing er an, aber es fiel ihm nichts weiter ein. Er machte noch einen Anlauf gegen den großen Jungen. Diesmal bekam der ihn aber schon an den Handgelenken zu packen, bevor Georg überhaupt an ihn heran reichte. Anna bewunderte Georg. Er hatte überhaupt keine Chance, aber er stemmte sich verbissen gegen den großen Jungen. Wieder wurde Georg Richtung Wasser geschoben und wieder landete er im Main. Er stand auf und sah verzweifelt aus. Der andere war einfach zu groß.
“Es reicht!” rief Anna. Sie wunderte sich, dass sie gar keine Angst hatte. Sie ging zu dem fremden Jungen, der über dem kaputten Bündel Äste stand, das gerade noch Daniels Boot gewesen war, stellte sich vor ihn hin und verschränkte die Arme vor der Brust.
“Du glaubst wohl, du bist ein ganz Starker!” rief sie zu ihm hoch. Ihr Herz klopfte wild, ihr war doch nicht ganz wohl bei der Sache, aber sie war auch wütend. So wütend, wie man als zehnjähriges Mädchen sein konnte. Ohne nachzudenken holte sie aus und trat so fest sie konnte mit der harten Spitze ihres Schuhs gegen das Schienbein des Jungen. Sie traf auf einen harten Widerstand, er krümmte sich wortlos, zog die Schultern hoch und trat einen Schritt zurück, wollte nach seinem Bein greifen, es halten. Anna setzte nach und trat nochmal zu, diesmal gegen das andere Schienbein.
“Hau ab!” schrie sie zornig. “Haut alle ab!”
Das fleischige Wiesel krümmte sich vor Schmerzen, so konnte Anna an seine Schultern reichen. Sie schubste ihn, er stolperte nach hinten, immer noch konzentriert auf den brennenden Schmerz an seinen Schienbeinen.
“Hau ab, weg hier, verschwinde, du Ekel!”
Ein großes Oho und Aha – die anderen großen Jungen lachten laut. “Tja Rudolf, da hast du dich anscheinend mit der Falschen angelegt!” rief einer.
Rudolfs Gesicht war schmerzverzerrt, er stand noch immer leicht gebückt, wich langsam zurück. Anna ging weiter auf ihn zu, ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Rudolf fasste sich. Die Überraschung war immer noch so groß, dass er sich zum Rückzug entschied. Sie war ein kleines Mädchen, er konnte nicht verstehen, was gerade passierte. Seine Gruppe war schon weiter gelaufen, höhnisch lachend und murmelnd. Rudolf sah Anna finster an, es sollte eine Drohung sein. Sie hielt seinem Blick stand und guckte so böse zurück, wie sie konnte. Schließlich drehte er sich um und folgte seinen Kameraden.
“Warte nur … wehe, wenn ich dich erwische.” rief er noch, dann beeilte er sich, seinen Freunden zu folgen.
Als Anna sah, dass er leicht humpelte, hatte sie ein sonderbares Gefühl, dass sie später als Genugtuung kennenlernen würde.
Sie ging zum Wasser und half dem nassen Georg dabei, Sand und kleine Kiesel von seinem Hemd zu klopfen. Er war genau so beeindruckt wie Rudolf.
“Danke.” Staunend sah er Anna an, die von der Aufregung gerötete Wangen hatte. Er hielt still, während sie ihn abrieb.
“Du solltest wohl besser nach Hause gehen und dir trockene Sachen anziehen.” stellte sie mütterlich fest.
Georg nickte.
“Du bist mutig.” sagte er.
Anna stand gerade hinter ihm, so dass er nicht sehen konnte, wie sie sich freute. Es gefiel ihr sehr, dass er sie mutig fand. Auch Daniel und Judith kamen zu ihr und bedankten sich. Judith wischte sich noch eine Träne ab.
“Ich gehe dann mal.” sagte Daniel.
Er hatte die Lust am Spielen verloren. Er war überhaupt sehr traurig und still geworden, fand sein Freund Georg. Daniel war immer der Schnellere von den beiden gewesen, hatte viele Ideen für neue Spiele gehabt. Außerdem hatte er Georg immer von seinem Butterbrot abgegeben, wenn Georg nach seinem eigenen noch Hunger gehabt hatte. Georg wusste nicht, dass Daniel in der letzten Woche von einem ausgelassenen Mob vor dem Laden seines Vaters Bazillus und Ungeziefer genannt worden war. Das schöne große Schaufenster hatten sie beschmiert. “Ich muss auch nach Hause.” sagte Judith.
Sie verabschiedeten sich. Daniel und Georg verabredeten, am nächsten Tag wie immer zusammen zur Schule zu gehen. Georg wollte seinen Freund beschützen, dabei war Daniel eigentlich stärker. In letzter Zeit wirkte er so, als wäre er krank, fand Georg. Er stand da vor dem Bündel mit Ästen, das sein Boot gewesen war und sah es eine Weile an. Dann trat er es verächtlich in den Fluss. Langsam schwamm es davon.
“Immerhin schwimmt es noch.” sagte Georg, um Daniel aufzuheitern. Es klappte nicht. Sein Freund sah ihn nur an.
Judith ging los und forderte Daniel auf, mitzukommen. Oben an der Straße winkten sie noch einmal und Anna winkte zurück. Sie und Georg blieben allein am Ufer zurück.
“Du redest nicht viel, hm?” fragte Anna.
“Na ja, ich … weiß nicht recht. Vielleicht, manchmal, ja. Kommt darauf an.”
“Worauf?”
“Wer mich was fragt.”
“Also darf dich nicht jeder was fragen?”
Sie stand ganz nah vor ihm und sah ihn an. Er war nur etwas größer als sie.
“Nein, nicht jeder.”
“Und ich?”
Georg spürte ein Kribbeln im Bauch, das er nicht kannte. Es fühlte sich nicht schlecht an, aber er war auch nicht sicher, ob es sich gut anfühlte. Es musste mit Anna zu tun haben. Es hatte gerade angefangen, als sie so nah gekommen war.
“Du … kannst mich alles fragen.” stellte Georg fest.
Anna strahlte.
“Du wirst glaube ich mal ein ziemlich langer Lulatsch.” sagte sie.
“Meinst du? Das wäre gut, dann könnte ich solches Gesindel besser vertreiben.”
“Du hast doch mich.”
Georgs Gesicht wurde warm. Er wusste nicht, was er sagen sollte und tat so, als würde er frieren.
“Ist dir kalt?”
“Nein, nein, ich … hm.” Georg war verlegen. Es war Zeit, den Heimweg anzutreten. Er brauchte trockene Sachen.
“Sehen wir uns nochmal?” wollte Anna wissen und wandte sich zum Gehen.
Georg folgte ihr in Richtung Promenade.
“Ja.”
“Und wann?” Sie wünschte sich jetzt doch, dass Georg mehr sagen würde.
“Wenn du wieder mit Judith kommst, vielleicht übermorgen.”
“Warum mit Judith?” fragte Anna unsicher.
“Die findet Daniel glaube ich sehr nett.”
Sie frohlockte leise.
“Ich sage ihm dann, dass ich mitkomme, wenn er Judith trifft, damit ich ihre Freundin treffen kann.” Die finde ich nämlich sehr nett, dachte Georg, traute sich aber nicht, es zu sagen. “Gut. Zeigst du … mir dann mal dein Haus, vielleicht?” “Hm.” erwiderte Georg schüchtern.