“Nie wieder gehe ich da rein!”, schluchzte Maria, “so eine blöde Uhr. Dabei war es so ein gutes Versteck.”
Gustav sagte nichts. Eine ganze Weile saßen sie da und er hielt Maria fest. Er fragte sich, ob so eine Uhr sich etwas denkt, da sie doch alles sieht, oder ob sie nur den ganzen Tag tick tack macht und gelegentlich aufgezogen werden will. Das durfte er machen, in Begleitung von Helene. Sonntags wurde die Uhr aufgezogen. Dann stieg Gustav auf einen Stuhl, den er vor der Uhr positioniert hatte, Helene überreichte ihm feierlich den Schlüssel und er zog vorsichtig das Uhrwerk auf, genau so weit, dass die Feder noch leicht nachgab. Er konnte spüren, wann es genug war, wann es nicht mehr weiterging, ohne dass die Feder Schaden genommen hätte. Darauf achtete er sorgsam, denn er mochte die Uhr sehr.
So wie die Zeit zu Ende gegangen war, in der er noch in die Kammer unter der Treppe gepasst hatte, würde die Zeit zu Ende gehen, in der er sich vor seinem Vater verstecken konnte. Maria war warm, atmete wieder ruhig. So hätte es bleiben können, das wäre ein schönes Leben, dachte Gustav, aber er wusste, dass der Vater einen Plan hatte für seinen Sohn. Jetzt fing er selbst an zu weinen.
Während Maria ihren Bruder mit großen Augen ansah, spielten am Ufer des Mains ein paar Kinder mit selbst gebastelten Booten. Die kleine Anna war da, ihre Freundin Judith, Daniel und noch ein Junge, den Anna nicht kannte. Sie hatte ihr Boot mit ihrem Vater gebaut. Manchmal war er richtig nett, wenn er nicht so viele Termine hatte und zu Hause arbeiten konnte. Aber das kam nur am Wochenende vor. Sonst sah sie nicht viel von ihm. Sie war stolz, denn ihr Boot war das schönste. Daniel hatte nur ein paar Äste zu einem Bündel zusammen gebunden und ein Segel an den mit Kordel befestigten Mast geklebt. Judith hatte wie Anna ein Boot aus richtigen kleinen Brettern, aber dabei hatte ihr bestimmt niemand geholfen, es sah ganz schief aus. Anna hatte ein bisschen Mitleid mit den beiden. Der fremde Junge hatte gar kein Boot. Er guckte zu und sagte nichts.
Anna und Judith zogen ihre Boote mit Kordeln am Ufer entlang, das an dieser Stelle nicht steil ab fiel. Der Rest des Ufers war mit Mauern befestigt und zum Spielen ungeeignet. Daniel schob sein Astbündel mit der Hand hin und her. Das fand Anna nicht sehr überzeugend. Sie war älter als Daniel. Daraus leitete sie das Recht ab, ihn zu belehren, dass er nicht richtig spiele. Daniel sagte ihr, sie solle ihn in Ruhe lassen. Er hatte schon genug Ärger. Es war unfair, dass die Männer, die letzte Woche bei ihm zu Hause alles kaputt gemacht hatten, auch sein Boot vom Regal genommen und zertreten hatten. Es war viel schöner gewesen als das von Anna. Stattdessen musste er nun mit diesem blöden Bündel spielen. Das machte keinen Spaß.
Anna fragte den unbekannten Jungen, wie er heißt.
“Georg.” sagte er.
Und wie alt er sei.
“Elf.”
“Aha” sagte Anna, “ich bin zehn.”
Georg nickte anerkennend.
“Und wo wohnst du?”
Georg sagte ihr, wo er wohnte
Sie kannte die Straße nicht. So wie er sein Viertel beschrieb, war es nicht nahe bei ihrem Haus. Außerdem sagte Georg, dass er mit vielen anderen zusammen ein Haus teilt, dass sie eine Wohnung hätten. Das verstand Anna nicht. Jeder hatte doch ein Haus, Daniel hatte eines, und Judith auch, sie hatte sogar ein schönes Haus. Eigentlich hatten es die Eltern. Anna hatte Judith schon oft besucht und mochte ihre Eltern. Nur in letzter Zeit hatten Annas Eltern gesagt, dass sie nicht mehr zu Judith gehen soll. Als Anna gefragt hatte, warum, hatte ihr Vater gemeint, dass sie ihm zuliebe dort nicht hingehen sollte, sie würde das später noch verstehen.
Anna versuchte, Georg kennen zu lernen. Er hockte still dabei, sah ihnen beim Spielen zu und sagte nichts.
“Warum hast du kein Boot dabei?”
Georg zuckte mit den Schultern.
“Ich bin ein Freund von Daniel.”
Daniel nickte.
Anna wunderte sich. Das hatte sie sich ja schon selbst gedacht.
“Willst du mich auch was fragen?” bot sie an. Sie war ein wenig enttäuscht, dass Georg nicht neugierig zu sein schien. Er sah nur stumm aufs Wasser.
“Willst du mal?” fragte Anna und bot Georg ihre Kordel an.
Georg nickte und nahm das Ende der Kordel. Er zog das Boot hin und her, dann ließ er es ans Ufer gleiten. Anna belud es mit einigen Murmeln. Georg zog wieder und Daniel lud die Murmeln dann ein paar Meter weiter wieder ab.
“Eine Lieferung Kaffee für dich”, sagte Anna zu Daniel.
Daniel war unzufrieden. Er wollte lieber, dass die Murmeln Pfeffer sein sollten.
“Also gut,” sagte Anna, “liefere ich dir eben Pfeffer.”
Georg fand Anna sehr nett. Aber Sie machte ihm auch Angst, weil sie so schnell sprach und viele Fragen stellte. Das war er von Mädchen nicht gewohnt. Georg kannte nicht viele Mädchen, aber ein paar, immerhin. Da war Margarita aus dem ersten Stock, die immer im Treppenhaus saß, wenn drinnen in ihrer Wohnung geschrien wurde. Das war oft. Außerdem kannte Georg noch Elisabeth, die im Nachbarhaus wohnte. Der hatte er mal geholfen, als sie hingefallen war und sich das Knie blutig geschlagen hatte. Georg hatte sie gestützt und bis vor ihre Haustür gebracht. Dann bekam er von Elisabeths Mutter einen Kakao – bestimmt das Beste, was er jemals getrunken hatte. Sonst kannte er keine Mädchen, also insgesamt drei. Aber Anna war die netteste, fand er. Trotz der vielen Fragen.
Eine Weile spielten sie so. Die nachmittägliche Sonne schien auf Georgs Haar. Es hing ihm ins Gesicht, weil es vorne viel zu lang war. Anna fand das lustig und sah immer wieder hin. Die meisten Jungs fand Anna nicht sehr interessant. Als sie Hans aus ihrer Klasse gefragt hatte, wie er Emil und die Detektive fände, hatte der nicht einmal gewusst, dass das ein Buch ist. Anna war traurig gewesen, als ihre Mutter es ihr weggenommen hatte. Angeblich war es auf einmal kein gutes Buch mehr. Dabei hatten ihre Eltern es ihr selbst geschenkt. Es gab vieles zu Hause, das Anna nicht verstehen konnte. In der letzten Zeit wurde es immer schlimmer. Dieses und jenes sagte man nicht, tat man nicht, wollte man nicht. Freunde waren keine Freunde mehr, die Heinrichs wurden nicht mehr eingeladen, deren Tochter eine von Annas liebsten Spielkameradinnen war. Immer wenn Anna nachfragte, wann denn die Heinrichs nochmal kommen, sagte ihre Mutter, die seien im Urlaub oder auf Geschäftsreise. Dabei stimmte das gar nicht. Anna hatte aufgepasst und mit gerechnet – die Heinrichs hätten ja viele Monate lang Urlaub machen müssen. Sie war traurig gewesen, als sie gemerkt hatte, dass ihre Mutter Anna die Wahrheit nicht sagen wollte. Vielleicht hatten sie sich gestritten mit den Heinrichs, jedenfalls hielten sie Anna anscheinend für dumm. War sie aber nicht, ganz im Gegenteil. Anna dachte viel nach und machte sich manchmal auch schon Erwachsenen-Gedanken, zum Üben. Vielleicht konnte sie mit Georg darüber reden. Er schien nicht dumm zu sein.
Rufe kündigten schon von weitem an, dass sie das Ufer nicht mehr für sich allein hatten. Ein paar große Jungs kamen das Ufer entlang geschlendert. Schon von weitem begannen sie, kleine Steinchen zu werfen. Anna sah es und Georg hatte es auch gesehen. Judith und Daniel waren noch in ihr Spiel vertieft, bis auch zwischen ihren Booten ein Steinchen einschlug. Zuerst stand Georg auf, dann Daniel.
“Lasst das.” rief Georg.
Es klang nicht richtig entschlossen, fand Anna. Immerhin war er aufgestanden und hatte etwas gesagt. Sechs Jungs zählte sie, die da kamen und grimmig auf sie herunter sahen. Sie waren alle größer, Anna schätzte sie auf vierzehn oder vielleicht sechzehn Jahre, oder sogar noch älter. Einer kam nach vorne und nahm Judith ihr Boot weg. Er sah aus wie ein Wiesel, zumindest musste Anna an ein dickes, wohlgenährtes Wiesel denken. Sein Gesicht war irgendwie zu klein geraten. Es passte nicht zu dem fleischigen, großen Körper. Er trug als einziger lange Hosen, vielleicht war er so was wie der Anführer. Anna mochte ihn nicht, noch bevor er Judith das Boot weggenommen hatte.
“Und wenn ich es nicht lasse, was dann?”
Judith schaute ängstlich, während der