Enttäuschung war auf allen Gesichtern zu lesen. Nur Julius sah interessiert aus.
“Papiere können auch interessant sein. Das heißt, wenn man lesen kann. Ich verstehe schon, dass euch das zu kompliziert ist. Vielleicht werfe ich mal einen Blick drauf, ich bin gut im Lesen.”
“Hört, hört, die kleinen Leute auf den hintersten Plätze haben die größte Klappe.” gähnte Magnus.
“Wer so lange Haare hat wie du, sollte den Mund halten und sich schämen.” konterte Julius.
“Was, wieso Haare?”
“Pass bloß auf, ich sage nur Struwwelpeter.” Julius liebte es, mit sinnlosen Rätseln Verwirrung zu stiften. Magnus dachte tatsächlich nach, während Silke und Maik ins Haus gingen.
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, stand Eva noch am Fenster. Magnus bestand anscheinend darauf, Silke nach Hause zu fahren. Geschickt zierte sie sich, während Maik und Magnus gleichzeitig auf sie einredeten. Mein Gott, nun mach schon, dachte Eva und spürte einen Knoten im Magen, als Magnus die Beifahrertür für Silke aufhielt. Sie sah dem Wagen eine Weile nach. Dann stand Julius plötzlich hinter ihr. “Mein Gott, Schwesterherz, das ist Verwandtschaft. Ich gebe ja zu, dass er ein ziemlicher Knaller ist. Und Maik …” “Tsss.” entfuhr es Eva. “Wie lange sind die Dreamboys denn noch hier?” “Eine Woche. Glaube ich.” “Besser du vergisst das. Willst du dreiäugige Kinder haben? Oder welche mit zwei Köpfen?” “Ach was. Cousin, was heißt das schon. Ich bin sicher, an jedem Königshof wird da ohne Skrupel geheiratet.” “Wir sind hier aber nicht bei Königs.” “Ich weiß … danke.”
Sie räumten den Tisch ab und gingen schlafen. Eva drehte sich von einer Seite auf die andere. Sie machte das Licht wieder an, schlug Das Geisterhaus auf Seite 232 auf und las. Als sie merkte, dass sie 239 zum dritten Mal las, schlug sie das Buch wieder zu, machte das Licht aus und starrte in die Dunkelheit. Nach einer Weile stand sie auf, ging zum Fenster und sah auf die Straße hinaus. Draußen regte sich nichts außer flatterndem Gewimmel im Schein der Straßenlaternen. Sie legte eine Hand zwischen ihre Beine, die andere auf die Brust. So stand sie eine Minute, dann nahm sie schmollend das Schaumstoffkissen von ihrem kleinen blauen Sofa mit ins Bett.
*
Am nächsten Morgen wachte sie gut gelaunt auf. Die Sonne schien ins Zimmer. Sie kniete sich vor ihr Bett, zog den Koffer heraus, klappte den Deckel auf und nahm das Briefpaket. Sie versuchte, den Knoten zu lösen. Nach einigen Minuten gab sie es auf und rupfte den obersten Brief einfach heraus – ein Umschlag aus dickem Papier. Die Handschrift war krakelig, unregelmäßig. Sie verdrängte das schlechte Gewissen und riss ihn auf.
Nachdem sie den Brief gelesen hatte, beschloss sie, ihre Großmutter im Krankenhaus zu besuchen. Wie Eva von ihren Eltern gehört hatte, ging es ihr täglich besser. Zumindest schimpfte sie viel. Die Vorstellung, nicht in ihr Elternhaus zurückkehren zu können schmerzte mehr, als die Wunde am Kopf. Die Vergesslichkeit machte sie rasend, wenn sie einen lichten Moment hatte.
“Barbara, das ist aber lieb von dir, dass du mich besuchen kommst.” Marias Gesicht hellte sich auf, als ihre Enkelin in das Zweibettzimmer kam.
Ratlos ignorierte Eva, dass die Oma sie für ihre Tochter hielt.
“Wie geht es dir? Wie fühlst du dich?” Eva vermied einen mitleidigen Ton. Darauf reagierte Maria allergisch.
“Alt.” konstatierte ihre Großmutter trocken. “Es geht halt nicht mehr so wie früher. Wie geht es dem Haus, erzähle. Seid ihr fertig geworden?”
“Ja, Mama und Papa hatten schon das Meiste vorbereitet. Alles so, wie du es wolltest. Du musst dir keine Sorgen machen, habe ich gehört, deine Sachen kommen in gute Hände.”
Marias Augen glänzten, sie sah zum Fenster.
“Ich habe immer da gewohnt, weißt du. Schlimme Zeiten waren das früher, ein paar gute Jahre hatten wir, dann du … Eva? … ja, deine Eltern, das war so schön. Jetzt sitze ich hier und habe noch nicht mal die Anstalt gesehen, in die ihr mich stecken wollt.”
“Das ist keine Anstalt. Eine sehr gute, renommierte Adresse. Da hast du auf Knopfdruck alles was du brauchst. Es ist bestimmt nicht so schlimm. Jedenfalls keine Anstalt. Und wir stecken dich auch nicht da rein, ihr habt doch monatelang darüber gesprochen.”
“Ach.” seufzte Maria. Auf ihrem Gesicht hatten ernste Mienen ihre Spuren hinterlassen. Sie war eine attraktive Frau gewesen, sicher hatte der ein oder andere Mann bei ihr sein Glück versucht, nachdem ihr Erwin sie früh verlassen hatte.
Eva lenkte langsam zu dem Thema, wegen dem sie gekommen war. Beste Freundinnen waren sie nie gewesen. Maria war immer Respektsperson geblieben.
“Wir haben den Speicher ja auch leer geräumt. Was sind das eigentlich für Sachen da oben?”
“Speicher? Ach, ja, alles, was sich in den letzten hundert Jahren angesammelt hat.”
“Kennst du einen Georg Drache?”
“Drache … nein. Wer soll das sein?”
“Und eine Anna Brandt?”
Maria sah wieder zum Fenster.
“Saßen die beiden auf meinem Speicher?”
Eva war erstaunt. War das Schlagfertigkeit oder einfach so daher gesagt?
“Nein. Briefe waren da, Briefe von Georg Drache an Anna Brandt.”
“Mein Gott, wenn ich wüsste, was da alles gelandet ist. Dein Urgroßvater hat schon in dem Haus gewohnt, mein Vater, kannst du dir das vorstellen? Und der arme Gustav. So lang her.”
“Stimmt, das … die Briefe sehen aus, als hätten sie schon ein paar Jahre auf dem Buckel.”
“Leider kann ich dir da nicht helfen. Anna hieß die Frau von meinem Bruder, aber Brandt … vielleicht der Mädchenname. Da müsstest du mal Onkel Janus fragen. Falls der noch lebt.”
Eva horchte auf, den Namen Janus hörte sie zum ersten Mal.
“Onkel Janus?”
“Der Bruder meiner Mutter. Er hat sich um den Verstand gesoffen.”
Eva fand heraus, dass Janus in den ersten Jahren nach der Heirat ihrer Urgroßeltern bei ihnen gelebt hatte, dann aber in ein Heim nach München gekommen war.
Dankbar nahm sie Marias Angebot an, ihren Kuchen zu teilen. Die Zimmernachbarin wurde herein geschoben, eine zittrige kleine Dame, eingesunken in ihren Rollstuhl. Sie saß fast reglos über ihren Kuchen gebeugt. Als sie Maria zum dritten Mal fragte, ob ihr der Kuchen denn schmecke, als Maria geduldig antwortete und dann plötzlich vom Gang volkstümliche Musik ertönte, die ein offenbar schwerhöriger Nachbar laut aufgedreht hatte, da fühlte Eva Mitleid. Sie freute sich, einen Großteil ihres Lebens noch vor sich zu haben.
“Grüß mir den Wolfgang, hörst du?” bat Maria bei der Verabschiedung. “Wann kommt Gustav?”
Eva war peinlich berührt, wusste nicht was sie sagen sollte.
“Hörst du?” herrschte Maria sie an.
Eva wich zurück.
“Ich sage ihm Bescheid, alles Gute.” Sie beeilte sich, aus der Tür zu kommen. Warum bereitete einen niemand vor für solche Besuche? Sie wollte zu Magnus. Vielleicht konnte sie ihn zu einer Fahrt nach München überreden, den neuen Onkel besuchen, die Stadt anschauen. Nur schnell weg hier. Leben.
Ihre Tante war überrascht, sie zu sehen.
“Eva, wie geht es dir? Komm rein!”
“Hallo Victoria.” Magnus Mutter hatte meistens gute Laune. Sie konnte fast als seine ältere Schwester durchgehen. “Was macht das Leben, die Liebe, die Schule?”
“Pubertät unverletzt überstanden. Sagen wir mal so. Die interessanten Jungs mit den hübschen Müttern sind leider alle verwandt mit mir.”
Victoria strahlte.