Sein Vater Wilhelm machte Gustav Angst. Meistens fand er etwas auszusetzen an seinem Sohn. Ein strammer Bursche sollte er werden. Was ist ein strammer Bursche, Papa?” wollte Gustav einmal wissen, als er ins Arbeitszimmer des Vaters durfte. “Ein strammer Bursche zappelt nicht, er weint nicht, er setzt sich durch.” Wilhelm Bornwart betonte das r bei durch. “Was ist Durchsetzen?” “Das wirst du noch lernen, mein Sohn.” “Wann werde ich es lernen?” Gustav hielt sich an der Armlehne des Bürostuhls seines Vaters fest. “Schon bald, mein Kleiner, schon bald. Ich werde dich mit allem ausstatten, was du brauchst, um anständig durchs Leben zu kommen.” “Hast du mich lieb?” fragte Gustav. “Das ist eine Frage für Mädchen, mein Sohn. Deine Mutter hat dich lieb, ich bin zuständig für deine Erziehung. Jetzt geh und lass mich arbeiten.” “Ja, Papa.” Gustav wandte sich ab. “Wer setzt dir nur solche Flausen in den Kopf?” rief der Vater ihm nach. “Was für Flausen?” fragte Gustav. Er freute sich, dass sein Vater noch weiter mit ihm sprechen wollte. “Was sind Flausen?” “Wer hat mich lieb – was soll das? Du bist ein Bornwart. Du wirst einmal mein Nachfolger sein. Verstanden?” Wilhelm Bornwart wurde lauter und Gustav bekam ein Gefühl wie Magenschmerzen. “Ja. Papa.” sagt er leise. “Hat deine Mutter dir gesagt, dass du mich so etwas fragen sollst? Antworte!” “Nein, nein. Entschuldige, Papa.” Wilhelm Bornwart brummte, dann machte er eine ungeduldige Handbewegung und signalisierte Gustav zu verschwinden.
Gustav fragte sich immer wieder, wie man ein strammer Bursche ist. Er übte das Füße zusammenhauen und schlug sich dabei so fest gegen die Knöchel, dass er umfiel und weinte, so weh tat es. Das schöne Zack hatte er auch nicht hinbekommen. Die lauten Männer mussten sehr harte Knöchel haben. Immer waren das so viele, fast jeden Tag hatte sein Vater Besucher, die merkwürdige Hosen mit ganz großen Taschen an der Seite trugen und viel Krach machten. Wenn er nicht aufpasste und seinem Vater über den Weg lief, betatschten Hände seinen Kopf und der Vater packte ihn am Arm. Da sprach er dann wieder von strammer Bursche und ordentlicher Soldat. Das sollte er sein, der kleine Gustav. Vielleicht würde er dann ein Soldatenschwert bekommen, das wäre nicht schlecht zum Spielen. Gustavs Mutter sagte, er solle lieber kein Soldat werden. Einmal hatte er geweint, weil er Angst bekam bei all dem Brüllen und dem Gelächter. Da hatte sein Vater ihm eine Ohrfeige verpasst, dass er umgefallen war und ein Stück über die Fliesen rutschte. Dann saß er auf dem Boden und schaute auf zu den Männern, die bei seinem Vater standen. Sie lachten und sahen fröhlich aus. Er hörte auf zu weinen, auch wenn seine Wange ganz schlimm brannte und sicherlich feuerrot war. Sein Po tat ihm weh, die schwarzen und weißen Kacheln waren steinhart. Er verstand, dass Weinen nicht gut war, denn dann wurde alles nur noch schlimmer. Langsam stand er auf. Schon wieder hatte er eine Hand am Kopf, die ihn tätschelte. Er hasste es und kniff die Lippen zusammen. Am liebsten wollte er einfach losschreien, dass sie alle weggehen sollten, die fremdem Männer, und sein Vater sollte am besten auch weggehen, raus aus seinem Haus, weg von hier, und am liebsten sollte er nie wiederkommen. Gustav würde mit seiner Mutter allein bleiben und mit der kleinen Maria. Das wäre ein schönes Leben. Aber leider wurde daraus nichts und die Besucher kamen immer wieder, Tag für Tag, Woche für Woche. Gustav saß manchmal stundenlang in der kleinen Kammer unter der Treppe und wünschte sich, er könnte zaubern, sie alle verschwinden lassen und dann mit der Mutter, mit Maria und der dicken Helene in der Küche einen Kuchen essen, und einen süßen Pudding, und Honigkrapfen – die liebte er besonders. Dann würde er ganz viel Honig an den Händen haben, und am Mund, süß und klebrig. Niemand würde mehr schimpfen und ihn vom Tisch wegschicken, ihm sagen, er solle sich waschen und ordentlich machen, weil er sonst eine Schande sei für den Führer. Dabei kannte Gustav diesen Führer gar nicht. Sein Vater hatte ein großes Bild von einem fremden Mann in seinem Arbeitszimmer hängen, hinter sich an der Wand. Als Gustav gefragt hatte, ob das ein Freund von ihm sei, da hatte der Vater laut gelacht und ihn einen Tölpel genannt. “Du bist erst sechs, das kannst du nicht wissen. Das ist kein Freund, das ist der Führer, der Vater von Deutschland, so wie ich dein Vater bin”. Das fand Gustav traurig, denn dieser Führer sah nicht sehr freundlich aus.
Vor einem Monat hatte Gustav seinen neunten Geburtstag gehabt. Es hatte Zitronenkuchen gegeben. Sogar der Vater war recht freundlich gewesen und hatte ihm ein Messer geschenkt. Damit ließ sich gut schnitzen. Gustav hatte schon eine ganze Reihe kleiner Holzfiguren hergestellt. Er wollte Schach lernen, auch wenn niemand in seinem Haus ihm die Regeln erklären konnte.
Heute war ein schöner Tag, denn gestern Abend war der Vater auf eine Reise gegangen. Er würde eine Weile weg bleiben. Das hieß für Gustav, dass er in dieser Zeit nicht mitkommen musste auf eine der Fahrten durch die Bornwart-Werke. Seit einem Jahr musste er seinen Vater einmal in der Woche begleiten. Alle waren ganz freundlich zu ihm, schüttelten seine Hand und gaben ihm Plätzchen, wenn er hinter seinem Vater her lief. Wilhelm Bornwart sprach hier noch lauter, als zu Hause. Gustav konnte sehen, dass sie Angst hatten vor ihm. Die meisten der Männer hatten schwarze Gesichter und einen ganz schlechten Geruch. In den Büros war es besser, da waren alle sauber und trugen weiße Hemden. Frauen gab es da, aber Angst hatten sie hier auch. Sie saßen ganz gerade auf ihren Stühlen, oder sie standen auf und brachten schnell Papiere, die sein Vater sehen wollte. Wenn er weiterging und ihnen keine Fragen mehr stellte, waren sie immer erleichtert.
Heute fand nichts davon statt, Gustav hatte seine Ruhe. Er ging zu Max, dem Chauffeur. Ihn mochte Gustav gerne. Max erklärte ihm ausführlich, wie der Wagen funktionierte. Staunend hörte Gustav von Explosionen im Motor, von Wellen und Zahnrädern, die unter der Haube arbeiteten. Er durfte sogar selbst auf den Sitz des Fahrers und das Lenkrad anfassen. Es ließ sich aber nicht bewegen, nur ein ganz kleines Stück konnte Gustav es drehen. Max musste sehr stark sein.
Gustav verbrachte viele Stunden mit seiner kleinen Schwester. Maria war jetzt fünf und Gustav war ihr Beschützer. Es gab nicht viel, vor dem er sie beschützen musste. Emma, das Kindermädchen, war sehr nett zu ihr. Es gefiel ihm trotzdem, dass Maria sich hinter ihm versteckte, wenn der Vater durchs Haus polterte oder wenn die Mutter rief. Besonders, wenn sie ihre Medizin genommen hatte, rief sie oft nach Maria und Gustav. Er mochte das nicht, denn die Medizin roch ganz furchtbar. Sie machte seine Mutter müde und ungeduldig. Manchmal schimpfte sie dann sogar, obwohl Gustav und Maria gar nichts gemacht hatten. Dann hatten Emma und Helene auch Angst vor Mama, so wie die Leute in den Werken Angst vor seinem Vater hatten.
Sie spielten Verstecken. Gustav ließ Maria gewinnen. Er durchschaute meistens sehr schnell, wo sie war. Sie hatte immer ein Lieblingsversteck. Lange war es die Kammer unter der Treppe, wo er selbst sich früher verkrochen hatte. Da hatte er sie aber so häufig gefunden, dass sie sich etwas Neues einfallen lassen musste.
Seit kurzem gab es die große Uhr in der Halle. Ein richtiger Turm war das. Gustav musste das Kinn ganz hochrecken, wenn er direkt davor stand und zum Zifferblatt aufsah. Einmal in der Stunde gab es einen großen Gong, und einmal schlug sie noch lauter, immer wieder, so oft, bis die Zeit fertig angeschlagen war. Tick tack, machte sie, immer wieder. Wenn Gustav lange zuhörte, veränderte sich der Ton in seinem Ohr, wurde mal lauter, mal leiser. Dann wieder hatte er das Gefühl, die Uhr wäre aus dem Takt, oder sie spielte einen Rhythmus. Er hörte ihr gerne zu. Mit ihr war der Flur weniger kalt und hatte sogar etwas Gemütliches. Wenn es ihm schlecht ging, stellte er sich neben die Uhr und tick tack wurde seine Traurigkeit oder sein Ärger immer kleiner und leiser.
Unten hatte der Uhrenturm eine kleine Tür. Dort kletterte Maria beim Versteckspiel neuerdings immer rein. Auch heute stand sie in dem Turm. Gustav wusste das deswegen ganz genau, weil unten in der Tür eine Glasscheibe war, durch die man in das Innere sehen konnte. Er sah Marias Beine und ging an der Uhr vorbei, immer wieder, auf und ab. Dabei murmelte er laut vor sich hin, “wo ist sie nur, wo kann sie nur stecken, unter der Treppe ist sie nicht, im Wohnzimmer ist sie nicht, und im Esszimmer ist sie auch nicht, na warte, wenn ich die finde.” Er stellte sich vor, wie Maria hinter der Tür leise kicherte. Hauptsache, sie hatte ihren Spaß. Plötzlich ging die Uhr los. Gustav erschreckte sich, so nah hatte er noch nie dabei gestanden, wenn der Gong kam. Aus dem Inneren der Uhr kam ein Schrei. Das Türchen flog auf und Maria sprang so schnell hinaus, dass sie fast vornüber gefallen wäre. Der Gong ging immer weiter, es war zwölf Uhr Mittags. Maria lief davon, so schnell sie konnte. Gustav folgte seiner Schwester. In der