Totenläufer. Mika M. Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mika M. Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738090222
Скачать книгу
Blut lief durch sein Hemd. Getroffen. Tatsächlich getroffen.

      »Bleib liegen«, sagte eine Stimme direkt hinter ihm. Ruhig und gnadenlos. So dicht war er ihm also auf den Fersen gewesen. Tom starrte auf den Asphalt. Kalter Schweiß tropfte von seiner Nasenspitze auf den Boden. Sein Körper war erschöpft, in seinem Arm begann ein unmerkliches Ziehen. Er wollte nicht sterben. Nicht so kurz vor dem Ziel.

      »Es wird schnell gehen«, sagte der Totenläufer. Und trotz all der Lügen, die jener Mann von sich gab, zweifelte Tom nicht daran.

      Mit einer hastigen Bewegung zog er das Tuch von seinem Gesicht, drehte sich um und sagte: »Es zählt das ›Warum‹ nicht wahr?«

      Ihre Blicke trafen sich. Neel Talwar antwortete nicht, legte nur die Waffe an und zielte, den Finger um den Abzug gelegt. Vorbei.

      »Waffe runter!«, brüllte jemand so laut, als ging es um sein eigenes Leben. Jay, er war da.

      Der Totenläufer tat es nicht. Sein Blick haftete auf Tom. Er konnte es noch immer tun. Er konnte immer noch abdrücken.

      »Nimm die scheiß Waffe runter!«

      Sie blieb auf Tom gerichtet, doch er regte sich.

      »Du … hast mich ausspioniert?«, fragte Neel Talwar. Tom schluckte. Ihm war bereits schummrig vor Augen. Sein Herz wurde schwächer und sein Körper brannte vor Schmerz. Er war sich sicher, dass er sterben würde. Nicht abwarten, sofort handeln. Das war die Devise. Doch Tom täuschte sich.

      »Du kannst das gut. Das mit dem Schauspielern«, sagte der Totenläufer, nahm die Waffe herunter und legte sie auf den Boden.

      Jay ging zu ihm, den Lauf seines Gewehrs auf Neel Talwar gerichtet. Jederzeit bereit zu töten, sollte es Widerstand geben.

      Als er direkt vor dem Totenläufer stand, sagte er: »Gut, dass wir einander endlich begegnen. Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du dir wünschen, niemals für die Verwaltung gearbeitet zu haben.«

      Im Hintergrund ertönte ohrenbetäubend laut ein Alarm. Der Notalarm der SDF. In Kürze würde Verstärkung eintreffen. Tom jedoch entspannte sich, ließ sich auf den Boden sinken. Sie hatten ihn. Sie hatten ihn wirklich. Den Helden Red-Mon-Stadts.

      X

      Den Weg zum Fluchtpunkt fand Rina allein. Es ging ein Stück am Meer entlang, dann weiter eine Hauptstraße hinauf, wo sie in eine Seitengasse einbog, der sie bis zum Ende folgte. Vor dem unauffälligen Eingang eines Geschäfts blieb sie stehen und klopfte in einem bestimmten Rhythmus dagegen. Man öffnete ihr und sie betrat einen spärlich beleuchteten Raum, in dem tagsüber Drogerieartikel verkauft wurden.

      Kaum ein Mitglied der REKA beachtete sie, denn auf einer Pritsche lag der Schleuser. Er hatte eine Schussverletzung an der Schulter und eine Frau legte ihm einen provisorischen Verband um.

      Unbemerkt stahl sich Rina an einigen Rebellen vorbei, die heftig über das Geschehene diskutierten und näherte sich der Pritsche.

      Der Greif lief daneben auf und ab. Er sprach über das Verhalten des REKA-Mannes, fragte ihn, ob er völlig den Verstand verloren habe, so etwas Riskantes zu tun. Ob er nicht einen Moment in Erwägung gezogen habe, den Job ihm zu überlassen? Was, wenn er draufgegangen wäre? Der Verletzte antwortete gedämpft, kämpfte mit den Schmerzen. Es sei eben ein Notfall gewesen. Hätte er nichts gemacht, wäre er im Rohbau erschossen worden.

      Sie starrte ihn an, fixierte sein bleiches Gesicht und die müden Augen. Auf der Nase zeichneten sich Sommersprossen ab, die kurzen Haare waren zerwühlt. Blau – hellblau, das war die Farbe seiner Augen.

      Dann bemerkte er sie, und als er sie ansah, schnürte sich eine Kette um ihre Brust.

      »Was … macht denn ein … Lorca hier?«, fragte er und wandte sich mühevoll an den Greif. »War das deine Idee?«

      »Sie ist aus freien Stücken hier, Tom«, sagte der Greif und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie wollte dich unbedingt persönlich kennenlernen. Hast eben einen gewissen Charme.«

      »Was?« Sein Blick richtete sich auf sie. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und ihre Fingernägel gruben sich in ihre Haut.

      »Du hattest doch den Einsatz vor einer Woche. In der SDF. Da oben in Westend. Sie ist der Lorca, den du …«

      Er unterbrach den Greif: »Nicht in Westend. Am Sichelturm.«

      Nun runzelte der Greif die Stirn.

      »Am Sichelturm? Du warst im Einsatz gegen uns?«

      »Das …« Er musste eine Pause machen. »… war nicht zu vermeiden. Mein Leutnant hat mich eingeteilt.«

      Erdrückendes Schweigen erfüllte den Raum.

      »Kannst du das mal aufklären, Sweetie?«, fragte der Greif.

      Ihre katzengoldenen Augen wandten sich ihm zu. Sie wollte es nicht aussprechen, denn wenn sie es sagte, wurde es Realität und das konnte sie nicht ertragen. Es machte ihr bewusst, wie dumm sie gewesen war. Jemand hatte mit dem Finger auf den Schleuser gezeigt und sie war in seine Richtung gelaufen, ohne darüber nachzudenken. Dabei wusste sie doch, dass sie nur glauben konnte, was sie mit eigenen Augen sah. Die Menschen zeigten doch selbst stets mit dem Finger auf sie und gaben ihr die Schuld für all ihr Unglück.

      »Er ist es nicht«, sagte sie und spürte, wie sie die Wahrheit erstach. Der Mann vor ihr hatte Viktor nicht getötet. Nein, er war unschuldig. Aber wenn er es nicht gewesen war und es sich auch nicht um einen Trick der Verwaltung handelte, wer von der SDF würde ihr dann das Leben schenken? Und wie wahrscheinlich war es, dass sie ausgerechnet an jenem Abend auf diese Person getroffen war?

      »Wir haben drei Soldaten verloren und Leutnant Talwar befindet sich in Gefangenschaft.« Die Stimme des Soldaten Rob McKanzie klang gefasst. Er stand aufrecht vor ihr, hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und seinen Blick auf einen Punkt an der Wand gerichtet. Doch so sehr er sich auch bemühte, seine Furcht nicht zu zeigen, vor Amanda konnte er sie nicht verbergen. Sie konnte seine Angst förmlich riechen. Es war der Duft eines Versagers und sie genoss ihn.

      Als Verantwortliche für Einheit 203 hätte sie wohl wütend oder gar enttäuscht sein müssen, doch ihr Gemütszustand ließ sich vielmehr mit positiven Attributen beschreiben. Triumph, Bestätigung und Überlegenheit. Sie hatte dieses Ende lange vorausgesehen.

      »Ich bin über den Ausgang des Einsatzes von Einheit 203 bereits informiert«, sagte sie und deutete auf den Stuhl gegenüber ihrem Bürotisch. »Setzen Sie sich Soldat.«

      Ohne Umschweife kam er der Aufforderung nach und nahm in militärischer Manier Platz. Seine überkorrekten Bewegungen deuteten auf äußerste Anspannung hin. Er war kein Ersatz für Neel, vielleicht eine traurige Kopie, doch niemals so effektiv wie er, niemals so … anregend.

      »Sir, ich wollte …«

      »Madam«, berichtigte sie den Soldaten und beobachtete, wie ein Muskel unterhalb seines Mundes unruhig zuckte.

      »Madam, natürlich. Es war ein Hinterhalt der REKA. Zwei von ihnen wurden von Leutnant Talwar während des Einsatzes erschossen. Ihre Leichen sind nach Safe City überstellt worden. Beides vermutlich Personen ohne Nutzen, deren RMS-ID gefälscht war. Die Gesichtserkennungssoftware hat ihre persönlichen Daten preisgegeben. Es kann aber sein, dass diese von der REKA frisiert worden sind. Ziel des Hinterhalts war allem Anschein nach die Gefangennahme von Leutnant Talwar.«

      »Auch das, Soldat, ist mir bereits bekannt.« Sie ließ den Satz wirken, klopfte mit einem Finger auf den Tisch. Das Zucken an seinem Mundwinkel hörte auf. »Das Interessante ist nicht die Tatsache, dass ihr versagt habt oder weshalb die Aufständischen tun, was sie tun. Derlei Nebensächlichkeiten bringen uns nicht weiter. Von Bedeutung ist die Frage, wie sie einen Lorcaalarm auslösen konnten, ohne dass das Kontrollsystem einen Fehler gemeldet hat. Das ist bedenklich. Vermutlich hat jemand unser Sicherheitssystem gehackt. Weiterhin ist zu hinterfragen, woher sie wussten, dass Einheit 203 auf genau diesen Alarm reagiert. Können