»Nichts lieber als das. Das heißt, wenn man das, was de Montfort so treibt, Arbeiten nennen kann«, spottete Moncourt. »Warum tust du das eigentlich?«
»Was denn?«, erwiderte Marie unschuldig.
»Na, de Montfort diese Chance geben.«
»JB ist ein guter Mensch. Er hat es verdient.«
»Ha!«, schnaubte Moncourt. »Und wer bist du? Irgend so’n Engel, der den Menschen Gutes tut?«
Marie testete den Begriff Engel. Marie Engel Bouvier? Ähnlich unpassend wie Marie Unantastbar Bouvier. Doch diese Sicht gefiel ihr.
»Warum denn nicht?«
Als Moncourt gegangen war, blieb Marie erneut sitzen und dachte nach. Der Stein rollte.
Sie griff nach ihrem Handy und führte ein kurzes Gespräch mit einem Kollegen. Anschließend wählte sie Philippe Delacourts Nummer.
»Delacourt?«, meldete sich der Financier.
»Hier spricht Marie Bouvier«, sagte Marie. »Ich habe über Ihren Fall nachgedacht.«
»So schnell?«
»Ich bräuchte Unterstützung von jemandem, der sich mit Computersystemen auskennt.«
»Haben Sie jemanden im Kopf?«
»Ja. Ein junger Kollege namens Christophe de Mirabeau.«
»Gut«, sagte Delacourt, ohne zu zögern. »Was halten Sie von einer Pauschale von zehntausend Euro für ihn, unabhängig von der Länge des Einsatzes? Vorausgesetzt, Sie nehmen den Fall an natürlich.«
»Ich nehme an«, erklärte Marie.
»Das freut mich. Sprechen Sie mit Ihrem Kollegen?«
»Habe ich schon. Er ist dabei.«
»Ausgezeichnet! Wann können Sie anfangen? Ich schlage vor, ich verschaffe Ihnen zum Start Zugang zum Mod’éco-Management. Gleich Montagmorgen?«
Da ihre kleine Wohnung im 5. Arrondissement von Paris kaum zwei Kilometer vom Hauptquartier der Pariser Justiz- und Kriminalpolizei entfernt lag, ging Marie zu Fuß nach Hause. Der zwanzigminütige Spaziergang war eine angenehme Gelegenheit, den Stress ihres Arbeitsalltags auszublenden, zumal Marie – anders als viele Pariser – schätzte, was dieser kurze Weg zu bieten hatte. Zuerst schlenderte sie auf die Notre-Dame-Kathedrale zu. An manchen Tagen gelang es ihr sogar, sich vorzustellen, sie gehöre zu den sorglosen Touristen, die sich zu fast jeder Tages- und Nachtzeit vor der weltbekannten Kirche einfanden. Dann überquerte sie die Seine und folgte dem für Pariser Verhältnisse recht langen Anstieg der Rue Saint-Jacques, vorbei an der Sorbonne Universität. Bei der Kreuzung mit der Rue Soufflot genoss sie oft den Blick auf das Pantheon zu ihrer Linken und den nach rechts über den Jardin du Luxembourg bis hin zu der fernen Spitze des Eiffelturms.
Heute Abend war Marie ausgesprochen guter Dinge. Ohne dass er es wusste, hatte Michel Moncourt ihr geholfen, einen wichtigen Teil ihres Planes umzusetzen. Jetzt galt es nur, in den kommenden Tagen und Wochen kontinuierlich Fortschritte zu machen. Dass sie gleichzeitig dank Philippe Delacourt und dem Finanzbetrug bei Mod’éco zu einem kleinen Vermögen kommen würde, war ein glücklicher Zufall. Entsprechend leicht war Marie die Entscheidung gefallen, den Fall anzunehmen.
Von der Tragweite dieser Entscheidung ahnte Marie zu diesem Zeitpunkt nichts. Doch sie passte ausgezeichnet zu diesem Freitag, dem Dreizehnten.
Jean-Baptiste de Montfort.
Jean-Baptiste begann, die Akte, die er bis zum heutigen Tag nie in den Händen gehalten hatte, zu lesen, und stellte mit Genugtuung fest, dass sein Gehirn wieder aufnahmefähig war.
In den frühen Morgenstunden des Samstags, 24. August 1996, hatten ein paar Jugendliche im 13. Arrondissement von Paris Feuer aus einem Fenster im dritten Stock eines Wohnhauses austreten sehen. Die Jugendlichen hatten sich auf dem Heimweg aus einer Diskothek befunden und waren angetrunkenen gewesen. Das machte sie für Jean-Baptiste nicht unsympathisch. Im Gegenteil. Außerdem hatten sie – angetrunken oder nicht – vorbildlich von der nächsten Telefonzelle aus sofort die Feuerwehr verständigt. Diese hatte gleich erkannt, dass der Brand gelegt worden war, und die Kriminalpolizei gerufen. Jean-Baptiste kannte die zwei Beamten, die nur Minuten später am Ort des Geschehens eingetroffen waren, gut. Der eine war Hauptkommissar Fabrice Mellier. Der andere ein junger Kommissar namens Jean-Baptiste de Montfort. Die Löscharbeiten waren in vollem Gange, als sie eintrafen. Dem schnellen Einsatz der Feuerwehr war es zu verdanken, dass eine Ausbreitung des Feuers auf andere Wohnungen verhindert werden konnte. Die Wohnung, in der der Brand ausgebrochen war, war jedoch bis auf ein Zimmer völlig ausgebrannt. Wie durch ein Wunder war eines der Schlafzimmer unversehrt geblieben – und damit auch Sima Goldbergs dort befindliche Leiche. Sima Goldberg war entsprechend schnell identifiziert worden. Das hatte Jean-Baptiste damals jedoch alles schon nicht mehr mitbekommen.
In der Akte folgte Sima Goldbergs lückenhafter Lebenslauf. Aus Burundi, zum Medizinstudium in den Achtzigerjahren nach Paris, wo sie einen aus Deutschland stammenden anderen Medizinstudenten namens Hermann Goldberg kennenlernte. Hochzeit, zwei Kinder im Abstand von drei Jahren, erst eine Tochter, dann ein Sohn. Tätig als angesehene Ärztin der Neurologie im Pariser Krankenhaus Pitié-Salpêtrière, seit Mitte der neunziger Jahre französische Staatsbürgerin. Ausgezeichnete Hobbytriathletin. Gesellschaftlich nie aufgefallen.
Trotz der Verbrennungen hatte man das tote Kind als Gustave Goldberg, Sima Goldbergs Sohn, identifizieren können. Der dritte Tote, ein Erwachsener, blieb namenlos. Während Sima Goldberg erschossen und Gustave Goldberg erwürgt worden waren, war der Namenlose durch mehrere Stiche mit einem Messer getötet worden. Von dem Messer fehlte jede Spur. Man hatte keinerlei Papiere gefunden, niemand war als vermisst gemeldet worden, und so hatte man bei der rechtsmedizinischen Untersuchung nur herausgefunden, dass es sich um einen afrikanischstämmigen Mann Mitte dreißig gehandelt hatte. Die Wohnung war voll von den Spuren zweier weiterer Personen, was kaum überraschte, denn es handelte sich um Hermann Goldberg und die Tochter Jade Goldberg. Beide waren seitdem nicht mehr gesehen worden. Nachforschungen in der Umgebung, an Flughäfen und anderen Transportknotenpunkten waren erfolglos geblieben, selbst die Suche nach Familienangehörigen über die Staatsgrenzen hinaus hatte keinerlei Ergebnisse gebracht.
Bei dem nicht identifizierten toten Mann handelte es sich offenbar um Sima Goldbergs Liebhaber, denn sie hatte vor ihrem Tod nachweislich mit diesem Geschlechtsverkehr gehabt. Analysen des in Sima Goldbergs Körper gefundenen Spermas hatten den Unbekannten zweifelsfrei als Produzenten des Spermas identifiziert. Vermutlich waren sie von Hermann Goldberg ertappt worden. Wieso auch der Sohn dabei hatte ums Leben kommen müssen, war nicht geklärt, der Bericht mutmaßte, dass der Sohn Zeuge gewesen war und darum ebenfalls hatte sterben müssen.
Der Verbleib der zu dem Zeitpunkt dreizehnjährigen Tochter – oder ihres Körpers – war ein nie geklärtes Mysterium. Es wurde davon ausgegangen, dass auch sie dem Vater zum Opfer gefallen war, aufgrund der Abwesenheit eines Körpers war der Fall offiziell als Dreifachmord dokumentiert worden. Für dieses Verbrechen wurde Hermann Goldberg auch heute noch gesucht.
Damit endete die Geschichte. In der Akte befanden sich noch allerhand Dokumente, die man zu allen bekannten Beteiligten zusammengetragen hatte. Hermann Goldberg war zur gleichen Zeit wie seine Frau französischer Staatsbürger geworden. Die zwei Kinder waren im Krankenhaus Pitié-Salpêtrière geboren und hatten so von Geburt an die französische Staatsbürgerschaft gehabt. Hermann Goldberg war nach dem Medizinstudium ein paar Jahre als Forscher tätig gewesen, bevor er etwas ganz anderes tat und im Viertel der Butte-aux-Cailles ein Schokoladen-Café eröffnete. Dies schien umso erstaunlicher, als Goldberg während des Studiums durch herausragende Noten aufgefallen war. Auch die zwei Kinder waren in den wenigen Jahren ihrer Schulzeit als ausgesprochen intelligent aufgefallen.
Zuletzt war vermerkt, dass der Hauptverdächtige, Hermann Goldberg, im Ausland vermutet wurde. Man hatte zwar keinerlei handfeste Hinweise, doch man hatte ihn in Frankreich nicht gefunden,