Das schwarze Geheimnis der weißen Dame. Kolja Menning. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kolja Menning
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752916799
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war, startete Jean-Baptiste Google Earth, ein Programm, das Claire ihm erst vor ein paar Wochen gezeigt hatte. In das Suchfeld tippte er »Burundi« und drückte Enter. Sofort zoomte das Blickfeld von seiner Standardansicht irgendwo hoch über Paris aus und flog ziemlich genau nach Süden. Als das Bild fertig geladen war, blickte Jean-Baptiste auf einen Flickenteppich von Satellitenbildern unterschiedlicher Güte. Burundi schien in den Augen von Google keine besondere Bedeutung zu haben – was man den Herrschaften von Google eigentlich nicht verübeln konnte, denn es handelte sich, wie Jean-Baptiste jetzt erkannte, um ein verhältnismäßig kleines Land westlich von Tansania, südlich von Ruanda und – was für ein interessanter Zufall – östlich der Demokratischen Republik Kongo. Die Hauptstadt schien eine Stadt namens Bujumbura zu sein, von deren Existenz Jean-Baptiste hiermit zum ersten Mal Kenntnis nahm.

      Überrascht von seinem plötzlichen Wissensdurst surfte Jean-Baptiste auf Wikipedia und belas sich zu Burundi und folgte einer Handvoll Links, um seine Lektüre zu vertiefen.

      Es war immer noch nicht richtig spät, aber er empfand eine zunehmende Müdigkeit. Also beschloss er, zeitig schlafen zu gehen. Und für den nächsten Morgen nahm er sich vor, zum ersten Mal seit zwei Jahren seine Laufschuhe anzuziehen und joggen zu gehen. Er würde vermutlich nicht lange durchhalten, was umso deutlicher auf die dringende Notwendigkeit körperlicher Betätigung hinwies. Weil er sich selbst nicht traute, stellte er seine alten Laufschuhe bereit und legte Shorts sowie ein T-Shirt dazu. Letzteres bewies, dass Jean-Baptiste im Jahre 1998 an den 20 km de Paris, einem alljährlichen Pariser Stadtlauf, teilgenommen hatte, wenn auch das T-Shirt nicht verriet, ob er sie bis zum Ende, und wenn ja, in welcher Zeit, gelaufen war.

      Es wird ein ganz großartiges Wochenende werden, nahm Jean-Baptiste sich vor. Von jetzt an wird jeder einzelne Tag großartig! Und diesen verfluchten Goldberg kriege ich, selbst wenn er sich im hintersten Winkel der Erde versteckt hat!

      Kein besonders realistisches Ziel? Gewiss nicht. Aber das hätte Forrest Gump nicht gestört. Es galt, sein Schicksal in die Hand zu nehmen. Und wer konnte es schon wissen? Vielleicht hatte er ja Glück.

       Montag, 16. Mai 2011. Tag X-12.

       Rahul Milad Khalili.

      

      Der Flug nach Kabul startete vom Neu-Delhi International Airport mit knapp einer Stunde Verspätung. Als keine Anschnallpflicht mehr bestand, verließ der Passagier, der bis dahin reglos und mit geschlossenen Augen auf dem Platz 34E gesessen hatte, seinen Sitzplatz und begab sich mit einer leichten baumwollenen Tasche, die sein einziges Handgepäck darstellte, auf das WC. Er entledigte sich des nach westlichem Stil geschnittenen hellblauen Baumwollhemdes, seines weißen T-Shirts und seiner grauen Baumwollhose. Einen Moment lang stand Rahul Milad Khalili nur mit einer Unterhose bekleidet vor dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken und starrte sein Spiegelbild an. Der dichte dunkle Bart verbarg einen Großteil seines Gesichts, sodass die tiefen Falten seiner Haut nur um die Augen sichtbar waren. Dann nahm er eine sauber zusammengerollte weite weiße Baumwollhose aus seiner Tasche und zog sie an. Das Gleiche tat er mit einem langen weißen Baumwollhemd, das ihm bis über die Knie herunterhing. Von den drei Knöpfen am Hals schloss er zwei. Er hatte noch nicht entschieden, ob er den Turban tragen würde, daher ließ er sein fünf Meter langes Turbantuch vorerst in der Tasche, in der er auch seine westliche Kleidung verstaute. Nach einem letzten Blick in den Spiegel verließ er das Flugzeug-WC und kehrte zu seinem Sitzplatz zurück. Den Rest des zweistündigen Fluges verbrachte er unbeweglich und mit geschlossenen Augen. Niemand hätte sagen können, ob er schlief oder nicht.

      Nach der Landung in Kabul entschied sich Rahul Milad Khalili gegen den Turban. Bei der Passkontrolle erlebte er einen kurzen bangen Moment. Der Beamte zögerte und sein Blick wanderte mehrfach zwischen dem Gesicht vor ihm und dem Pass in seinen Händen hin und her. Rahul Milad Khalili wusste, wieso. Doch dann händigte der Beamte ihm seinen Pass wieder aus und winkte ihn durch. Rahul Milad Khalili atmete durch. Er befand sich auf afghanischem Boden. Der Anfang war geschafft. Der Anfang vom Ende.

      Vor dem Flughafen schenkte er den ihre Dienste anbietenden Taxifahrern keinerlei Beachtung, sondern orientierte sich direkt zu einem ebenfalls bärtigen traditionell gekleideten Mann. Als der Mann ihn erblickte, begannen seine Augen zu leuchten, und er machte ein paar Schritte auf Rahul Milad Khalili zu. Als sie sich erreichten, hielten sie einen winzigen Augenblick inne, während dem sie sich betrachteten.

      »Willkommen, mein Bruder!«, sagte der Mann dann, und sie umarmten sich zur Begrüßung. »Komm!«

      Rahul Milad Khalili folgte ihm schweigend zu einem alten Auto und stieg auf der Beifahrerseite ein.

      Sie sprachen kein Wort während der Fahrt, die erneut knapp zwei Stunden dauerte. Rahul Milad Khalili betrachtete unentwegt die karge Landschaft, durch die sie fuhren. Schließlich bogen sie von der Hauptstraße in einen schmalen steinigen Weg ab, dem sie zwei oder drei Kilometer folgten, bis sie zu einem großen zweistöckigen Haus aus Lehmziegeln kamen, das von einer niedrigen Mauer umgeben war. In dem so abgegrenzten Hof um das Haus herum standen ein paar Nadelbäume, und hinter der Mauer sah man einige Ziegen an ein paar Büschen knabbern.

      »Schön ist es hier«, sprach Rahul Milad Khalili die ersten Worte seit seiner Ankunft, nachdem er aus dem Auto gestiegen war. Er atmete die frische Luft ein und folgte seinem Begleiter ins Haus.

      »Wir haben dir oben ein Zimmer bereitet«, erklärte der Mann und deutete auf eine steinerne Treppe, die von der geräumigen Eingangshalle in den ersten Stock führte. »Komm!«

      Etwas später saßen sie mit zwei weiteren Männern in traditioneller Kleidung auf einer steinernen Bank hinter dem Haus. Der eine der beiden Männer war deutlich älter; sein Haar und sein Bart waren fast weiß.

      »Allah wird dir beistehen«, sagte der Mann, der Rahul Milad Khalili vom Flughafen abgeholt hatte. »Wir werden für dich beten, dass er dir die nötige Kraft schenken möge.«

      Rahul Milad Khalili hielt den Blick starr auf die im Wind schaukelnden Wipfel der Bäume gerichtet. Das Einzige, das ihm Sorgen bereitete, war tatsächlich, dass ihm die Kraft ausgehen könnte, bevor er seine Aufgabe zu Ende gebracht hatte.

      »Mein Tod ist nah«, sagte er schließlich.

      »Es gibt Schlimmeres«, sagte der alte Mann, und seine Stimme war sanft, liebevoll.

      Rahul Milad Khalili nickte.

      »Wenn ich meine Aufgabe erfülle, werde ich den Tod genießen.«

       Marie Bouvier.

      

      Marie hatte das Wochenende genutzt, um Finanzberichte über Mod’éco und die Pressemitteilungen zum Börsengang zu lesen. Der Börsengang durfte offenbar als Erfolg gesehen werden. Die Aktie war knapp eineinhalbmal überzeichnet gewesen, der Emissionskurs hatte bei neunzehn Euro und siebzig Cent gelegen und die Aktie hatte gleich am ersten Tag deutlich im Plus geschlossen. Alles bestens. Bis zu der Gewinnwarnung drei Monate später. Dabei waren die Eheleute Delacourt die größten Verlierer, denn gemeinsam hielten sie fast ein Viertel des Kapitals. Bei dem Rest des Managementteams waren es nur ein paar Prozent. Die übrigen Anteile befanden sich im Streubesitz.

      Mit diesem Wissen fand sie sich gemeinsam mit ihrem Kollegen Christophe de Mirabeau am Montagmorgen vor dem Bürogebäude des Modeunternehmens Mod’éco ein.

      Delacourt erschien kurz nach ihnen.

      »Sie sind schon da«, stellte er fest, »gut!«

      »Dies ist Christophe de Mirabeau«, stellte Marie ihren Kollegen vor, und Delacourt reichte ihm die Hand.

      »Angenehm!«, sagte er und musterte de Mirabeau aufmerksam. »Wollen wir?«

      Sie betraten das Gebäude, und Delacourt führte Marie und de Mirabeau zum Empfang.

      »Ich möchte zu meiner Frau«, sagte Delacourt zu dem jungen Rezeptionisten.

      Während sie warteten, wandte Delacourt sich Marie und de Mirabeau


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