Die Suche nach Angehörigen des Opfers Sima Goldberg in ihrem Heimatland Burundi verlief ergebnislos.
Damit endete der Bericht. Es folgte eine lange Liste an Anhängen. Kopien von behördlichen Dokumenten. Protokolle der Befragungen von Nachbarn, die jedoch ein nichtssagendes Bild der Goldbergs zeichneten. Eine umfangreiche Inventarliste der Wohnung der Goldbergs erregte Jean-Baptistes Interesse, auch wenn diese zweifellos Lücken aufwies, da ein Teil der Besitztümer der Goldbergs bei dem Brand in Flammen aufgegangen war. Die aufgelisteten Gegenstände ließen einige Rückschlüsse zu. Ein im Schlafzimmer verwahrtes altes Scheckheft identifizierte die Goldbergs als Kunden der Banque Postale. Zu dem Scheckheft gehörte ein sauber geführter Ordner mit Kontoauszügen. Die Kontoauszüge waren kopiert und der Akte beigefügt worden. Der letzte Kontostand von Ende Juli 1996 betrug gut dreißigtausend Francs, ungefähr fünftausend Euro. Nichts, das Jean-Baptiste auffällig gefunden hätte. In einem Schrank im Badezimmer hatte man den üblichen Inhalt einer Haushaltsapotheke gefunden. Ein paar Tennisschläger und -schuhe legten nahe, dass drei der Goldbergs Tennis gespielt hatten. Da er aus der Akte wusste, dass Sima Goldberg Triathletin gewesen war, tippte Jean-Baptiste darauf, dass die Tennisschläger Hermann, Jade und Gustave Goldberg gehört hatten. Dazu passten zwei ausgewaschene T-Shirts aus dem Kleiderschrank im Kinderzimmer, die sowohl das verblichene Logo des Paris Université Club, kurz P.U.C., als auch die für den Club charakteristische lila Farbe aufwiesen.
Schließlich hatte man Hermann Goldbergs persönlichen Terminkalender gefunden, in dem Tag für Tag handschriftlich Termine eingetragen waren. Sämtliche Seiten waren kopiert und dem Anhang der Akte beigefügt worden.
Mal sehen, wie sich ein Mörder so seine Zeit vertreibt!, dachte Jean-Baptiste.
Er hatte sofort den Eindruck, dass Hermann Goldberg kein sonderlich beschäftigter Mann gewesen war. Da gab es Wochen, in denen kein einziger Termin verzeichnet war. Wenn es Termine gab, waren diese alltäglich. Eine Getränkelieferung für das Schokoladencafé. Ein Zahnarzttermin. Ein Elternabend in der Schule von Gustave Goldberg, dem Sohn.
Hm.
Jean-Baptiste blätterte zu der Seite mit dem 24. August 1996, dem Tag des Mordes. Ein Samstag. Jean-Baptiste konnte sich gut an den Tag erinnern. Für Goldberg war es eine beschäftigte Woche gewesen. Am Montag hatte er eine Schokoladenlieferung erhalten. Dienstagvormittag hatte er »Zahnarzt« notiert. Der Mittwoch war leer. Über Donnerstag und Freitag hatte er eine Klammer gemalt und diese mit einer Notiz versehen:
S, J&G in P-F. Rückkehr Freitag spät.
Jean-Baptiste überlegte. Vermutlich hatte Goldberg mit S, J und G die Vornamen seiner Frau und seiner Kinder abgekürzt. Offenbar waren die drei an den zwei Tagen vor dem Mord nicht da gewesen. Der Eintrag besagte auch, wo sie gewesen waren – nur dass die Abkürzung sich Jean-Baptiste nicht erschloss. Das war möglicherweise interessant. Und dann war da Freitagmorgen noch ein Termin:
8h30, Praxis Dr. Chambille.
Jean-Baptiste fragte sich intuitiv, ob es üblich war, dass Ärzte zu anderen Ärzten gingen. Nach kurzem Nachdenken schien es ihm durchaus plausibel. Das Team, das sich damals um den Fall gekümmert hatte, hatte diesen Terminen offenbar keine besondere Bedeutung beigemessen, denn in dem polizeilichen Bericht wurden sie mit keinem Wort erwähnt.
Aus einem abschließenden Kommentar ging hervor, dass der Fall Goldberg am Freitag, dem 24. August 1997, genau ein Jahr nach dem Mord, unaufgeklärt zu den Akten gelegt worden war. Unterzeichnet von Hauptkommissar Fabrice Mellier.
Dass ein dreifacher Mord ungeklärt zu den Akten gelegt wurde, konnte man tragisch finden, doch Jean-Baptiste verstand. Die Goldbergs waren Einwanderer, was das Interesse für sie von vorne herein verringerte (auch wenn das so nicht im Bericht stand). Da die Suche nach Angehörigen nichts ergeben hatte, wusste man nicht einmal, wen man über den tragischen Tod von Sima und Gustave Goldberg hätte in Kenntnis setzen können. Bei dem unbekannten Mann war die Situation aufgrund der mangelnden Hinweise zu seiner Identität noch aussichtsloser gewesen. Und er, Jean-Baptiste de Montfort, wollte nun also Licht in diese Angelegenheit bringen.
Ich krieg’ dich, du Schweinehund, dachte er.
Wie Jean-Baptiste das anstellen wollte? Er hatte nicht den Schimmer einer Ahnung.
Weil es noch recht früh war, entschied sich Jean-Baptiste dann doch noch, etwas fernzusehen. Allerdings widerstand er dem Drang, einen Sportsender einzuschalten, und suchte stattdessen eine Nachrichtensendung.
Seit zwei Monaten hatte Jean-Baptiste am Rande verfolgt, dass auch andere entschieden hatten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und nicht mit fatalistischer Gleichgültigkeit irgendwelchen Alleinherrschern anzuvertrauen. Ein großer Teil der arabischen Welt demonstrierte gegen Korruption und für mehr Demokratie. Nach den Anfängen in Tunesien und Ägypten hatten die Leute überall verstanden, dass sie etwas ändern konnten.
Ein Auslandskorrespondent aus Tripolis war zugeschaltet und schien gerade mit seinem Beitrag fertig zu sein, denn der Nachrichtensprecher sagte:
»Besten Dank, Jean-Pierre Lapierre, und alles Gute nach Tripolis.«
Das eingeblendete Fenster mit dem Auslandskorrespondenten verschwand.
Dann folgte irgendetwas über falsch ernährte Schweine aus Deutschland und die Drohung der Holländer, die Importe deutschen Schweinefleischs zu stoppen. Eine Stellungnahme der EU aus Brüssel wurde in den kommenden Tagen erwartet.
Nach ein paar belanglosen Nachrichten aus Frankreich folgte ein weiterer Beitrag, der Jean-Baptistes Aufmerksamkeit erregte.
»In der Demokratischen Republik Kongo sind Anfang der Woche viele Menschen bei einem Überfall auf ein abgelegenes Dorf ums Leben gekommen. Nach ersten Angaben gibt es mindestens vierundvierzig Opfer. Details zu dem Überfall sind bisher nicht bekannt, ein Kommentar der vor Ort stationierten Mitarbeiter der Vereinten Nationen liegt zu diesem Zeitpunkt nicht vor.«
Den Nachrichtensprecher schien diese Nachricht aus dem schwarzen Herzen Afrikas nicht weiter zu interessieren, und er widmete sich dem nächsten Thema, irgendetwas zur bevorstehenden Hochzeit des britischen Prinzen William.
Doch Jean-Baptiste hörte nicht mehr hin. Normalerweise wäre es ihm genauso wie dem Nachrichtensprecher gegangen. Er wusste gerade soeben, dass die Demokratische Republik Kongo ein Teil des früheren Zaire war und sich im Herzen dieses Katastrophenkontinents Afrika befand. Das war weit weg und vor allen Dingen nichts, mit dem Jean-Baptiste das Geringste zu tun haben wollte. In seinem Bild von Schwarzafrika war die Hälfte der Menschen mit HIV infiziert, fast alle nagten am Hungertuch und produzierten trotzdem massenweise neue Kinder, die nicht ernährt werden konnten. Diese Probleme schien man zu regeln, indem man allen Kindern mit Erreichen der Geschlechtsreife aussortierte, aber noch voll funktionstüchtige, russische Maschinengewehre gab, mit denen auch fröhlich in der Gegend herumgeschossen wurde. Die wenigen Reichen waren richtig reich, wovon sich korrupte Politiker oft ein Scheibchen abzuschneiden wussten – aber auch das war offenbar kein Garant für Glück, denn man hörte doch ständig von irgendwelchen Putschen und Ermordungen von politischen Gestalten. Kurz: Man hatte in Jean-Baptistes Augen besser nichts mit Schwarzafrika zu tun. Seine Meinung war allerdings heute herausgefordert worden – von einer toten Frau schwarzafrikanischer Herkunft, von der eine mysteriöse Faszination ausging.
Jean-Baptiste hörte bei den Börsennachrichten nicht mehr zu, denn er besaß keine Aktien, und schaltete den Fernseher aus, bevor man ihm den Wetterbericht präsentiert hatte.
Zahlreiche Tote bei einem Überfall in der Demokratischen Republik Kongo. Eine Tote aus Burundi.
Während Jean-Baptiste die DR Kongo