Das schwarze Geheimnis der weißen Dame. Kolja Menning. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kolja Menning
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752916799
Скачать книгу
die meist – aber nicht immer – beachtet werden.

      Da es in der Eröffnung nur eine überschaubare Anzahl an Zügen gibt, gibt es auch nur eine überschaubare Anzahl an sinnvollen Erwiderungen. Man spricht von »spanischer Partie«, »sizilianischer Verteidigung«, »italienischer Partie«, »französischer Verteidigung« und vielen anderen Standardzugfolgen zu Beginn einer Partie. Erwähnt sei an dieser Stelle auch der Begriff des »Damengambits«.

      Kurz, es gilt, sich in Position zu bringen und dabei die Züge des Gegners möglichst gut zu antizipieren, um früh einen Positionierungsvorteil zu erlangen. Denn gelingt das nicht, kann es eine sehr lange, anstrengende Partie werden.

      Da Weiß beginnt, geht zumindest am Anfang von Weiß die Initiative aus.

      Und nicht nur beim Schach ist Initiative ein erster Schritt, etwas zu bewegen. Zum Besseren oder zum Schlechteren.

       Freitag, 13. Mai 2011. Tag X-15.

       Jean-Baptiste de Montfort.

      

      Jean-Baptiste de Montfort war ein echter Exot bei der Pariser Justiz- und Kriminalpolizei. Seit seiner Degradierung vor fünfzehn Jahren genoss er einen besonderen Status. Es war ihm untersagt, an aktuellen Fällen zu arbeiten, er musste andererseits jedoch beschäftigt werden. So war ein findiger Hauptkommissar vor Jahren auf die Idee gekommen, Jean-Baptiste alte unaufgeklärte Fälle vorzulegen. Das war für Jean-Baptiste nicht uninteressant; jegliche Ambitionen, einen dieser Fälle aufzuklären, wären jedoch völlig verfehlt gewesen. Meist gab es gute Gründe, warum die Fälle, als sie frisch gewesen waren, nicht hatten aufgeklärt werden können. So befasste sich Jean-Baptiste üblicherweise mehrere Wochen lang halbherzig mit diesen alten Fällen, bis man sich darauf einigte, sie als weiterhin ungeklärt wieder zu den Akten zu legen.

      In all den Jahren hatte Jean-Baptiste viele seiner Fähigkeiten eingebüßt. Nur die Leidenschaft, Menschen zu beobachten, ihr Verhalten zu interpretieren und zu erraten, wie sie tickten, brannte in ihm wie am ersten Tag. Und da es ihm an Gelegenheit mangelte, diese Beobachtungen an Verbrechern, Zeugen oder Verdächtigen vorzunehmen, hatte er mit der Zeit sein Detektivspiel ins Kommissariat verlegt. Es kam vor, dass er Stunden damit verbrachte, wortlos an seinem Schreibtisch zu sitzen und das Treiben um sich herum zu beobachten. Niemand kannte das Innenleben der Polizeibeamten so gut wie Jean-Baptiste. Er wusste, wer ambitioniert war und wer nur so tat. Er wusste, welche seiner Kollegen ihren Beruf verfehlt hatten, nicht weil es ihnen an den nötigen Fähigkeiten mangelte, sondern weil sie sich in ihrem tiefsten Innern nach etwas ganz anderem sehnten. Er wusste, wer gerade Sorgen mit seinen Kindern hatte, wer mit Geld umgehen konnte und wer nicht.

      Zum Beispiel war sich Jean-Baptiste sicher, dass Thérèse Drouot, eine Kommissarin Mitte dreißig, die etwas übergewichtig war und jedem, der ihr zuhörte, erzählte, wie absolut fantastisch ihr frisch angetrauter Ehemann war, sich ohne zu zögern für ihren Chihuahua-Welpen entschieden hätte, wenn sie zwischen diesem und besagtem Ehemann hätte wählen müssen. Arsène Cailloux empörte sich lautstark über den exzessiven Konsum von Alkohol und Tabakwaren unter Polizeibeamten, was ihn aber nicht davon abhielt, mit seinem siebzehnjährigen Sohn hin und wieder einen Joint zu rauchen. Ein durchaus sympathischer Typ – aus Jean-Baptistes Sicht übertrieb er es nur etwas mit der Scheinheiligkeit. Und zwischen dem gerade fünfzig gewordenen Hauptkommissar Arnaud Petit und der sechsundzwanzigjährigen Kommissaranwärterin Charlotte Moreau gab es eine inzwischen viermonatige Affäre, die den beiden ausgesprochen gutzutun schien, auch wenn sie alles dafür taten, dass nichts darüber bekannt wurde. Es gab nur eine Handvoll Kollegen, die Jean-Baptiste nicht zu lesen imstande war.

      Bis zum Nachmittag war jener Freitag mit Ausnahme des Datums ein ganz gewöhnlicher gewesen. Als Jean-Baptiste sich anschickte, seinen Arbeitsplatz aufzuräumen, um etwas früher ins Wochenende zu starten, sah er seinen Kollegen Michel Moncourt, einen durchtrainierten jungen Kommissaranwärter, in seine Richtung schreiten.

      Er will zu mir, stellte Jean-Baptiste fest, hielt in seiner Bewegung inne und beobachtete, wie Moncourt sich näherte. Er will zu mir und er ist nervös.

      Nach dieser Feststellung widmete er sich wieder seinen Notizen zu einem fast fünfundzwanzig Jahre alten Fall von Drogenhandel.

      »Bereit fürs Wochenende, JB?«, fragte Moncourt, als er bei Jean-Baptistes Arbeitsplatz angekommen war.

      »Sicher«, erwiderte Jean-Baptiste und blickte von einem Stapel Papiere auf, die er gerade in den Papierkorb befördern wollte. »Soll ja schönes Wetter werden.«

      Moncourts Blick wanderte zu dem auf Jean-Baptistes Schreibtisch aufgestellten Bilderrahmen. Das Foto darin zeigte ein lächelndes Mädchen mit deutlich ostasiatisch geprägten Gesichtszügen.

      »Wie alt is’ ’n deine Tochter jetzt?«, fragte Moncourt und nickte zu dem Bilderrahmen.

      »Zu jung für dich«, entgegnete Jean-Baptiste unwirsch.

      Moncourt grinste.

      »Noch«, meinte er, worauf Jean-Baptiste nichts antwortete, sondern nur den Stapel Papiere in den Papierkorb wandern ließ.

      »Haste am Wochenende was vor?«, fragte Moncourt nach einer kurzen Pause.

      Jean-Baptiste schüttelte den Kopf.

      »Und selbst? Fitnessstudio?«, fragte er, obwohl es ihn eigentlich nicht interessierte.

      »Nee ... hab’ heut’n Rendezvous mit ‘ner Süßen.« Moncourt grinste.

       Ist er deswegen so nervös?

      »Vorher hab’ ich noch’n Dossier für dich«, fuhr Moncourt fort.

      »Jetzt?«

      »Nichts Dringendes ...«

      Als wenn ich hier je was Dringendes tun würde, dachte Jean-Baptiste.

      »Aber’n interessanter Fall«, erzählte Moncourt weiter. »Kannst ja mal ’nen kurzen Blick drauf werfen. Wird dir gefallen!«

      Er grinste erneut und zwinkerte Jean-Baptiste auf eine Weise zu, die diesen stutzen ließ.

      »Na, muss los«, sagte Moncourt. »Können ja Ende nächster Woche mal ’nen Termin machen und sehen, wo wir stehen. Freitag oder so.«

      »Freitag ist ungünstig«, erwiderte Jean-Baptiste, obwohl es dafür keinen besonderen Grund gab.

      »Na, dann vielleicht Freitag darauf, wenn wir paar Minuten finden.«

      »OK.« Das war unverbindlich genug.

      »Also dann, schönes Wochenende! Wetter soll ja gut werden.«

      Ja, das hatten wir schon festgestellt, dachte Jean-Baptiste.

      Während er darauf wartete, dass Windows herunterfuhr, fiel sein Blick auf die Akte. Auf der Deckklappe standen ein nichtssagendes Aktenzeichen und ein Datum.

      Einen Moment lang spielte Jean-Baptiste mit dem Gedanken, die Akte gar nicht erst aufzuschlagen, sondern damit bis Montag zu warten.

      »Wird dir gefallen«, hatte Moncourt gesagt und dabei geradezu schäbig gegrinst. Jean-Baptiste seufzte. Wenn er bedachte, wie eilig Moncourt es gehabt hatte, zu irgendeinem Rendezvous mit »’ner Süßen« zu kommen, war die Sachlage eigentlich klar. Man musste nicht Sherlock Holmes sein, um das zu durchschauen. Jean-Baptiste war sich ziemlich sicher, dass er in der »Akte« – sie als solche zu bezeichnen, wäre eigentlich nicht ganz richtig gewesen – ein paar billige pornografische Bilder finden würde. Das passte zu Moncourt. Jean-Baptiste wollte nur ungern mit so etwas im Kommissariat gesehen werden. Also verstaute er die Akte in seiner Tasche, bevor er das Kommissariat verließ.

      Am Place d’Italie verließ Jean-Baptiste die unterirdischen Gefilde der Metro und kaufte in einem kleinen Supermarkt Oliven und Tomaten, eine billige Flasche Rotwein und zwei Zucchini. In seiner Stammbäckerei erstand er ein frisches Baguette. Er kam vor seiner Frau Julie und seiner Tochter Claire in