Vollbracht. Christian Geiss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Geiss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742705976
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was dieser große Künstler der Renaissance an die Decke des Apostolischen Palastes gemalt hatte: Gott war auf der Suche nach ihm, dem Verlorenen. Der Ruf des Schöpfers schallte immer noch durch diese Welt, Gott streckte jedem seine Hand entgegen.

      Gott war so anders, so viel reiner und schöner, als die Menschen heute über ihn dachten. Das Gottesbild in dieser Welt war von vielen falschen Bildern gekennzeichnet und der Begriff „Gott“ hatte einen negativen Klang erhalten. Ein Gott, für den Menschen töteten, in dessen Namen Kirchen grausame Dinge taten, dessen Lehre anscheinend nur aus Verboten bestand – an einen solchen Gott wollten und konnten die Menschen nicht glauben.

      Viele verbanden mit „Gott“ etwas Negatives oder auch Widersprüchliches, da jeder den Begriff so füllte, wie es ihm beliebte: Philosophen, Religionsgemeinschaften, Historiker – jeder verpasste „Gott“ einen anderen Inhalt.

      Doch der Gott, dem Abid begegnet war und den die Bibel beschrieb, war aus seiner Sicht ein liebender, ein sich sehnender Gott. Einer, der für die Menschen das Glück und nicht das Unglück wollte. Ein Gott voller Güte, Gnade und Barmherzigkeit. Diese Eigenschaften waren die Eckpfeiler des Wesen Gottes, wie ihm Abid begegnet war.

      „Verehrter Vater, willst du dich nicht langsam schlafen legen? Es ist schon spät.“

      Die Worte von Hamide rissen Abid aus seinen Gedanken. Abid wusste, dass es Hamide nur gut mit ihm meinte. Und je älter er wurde, umso mehr verließen ihn die Kräfte und er brauchte die Erholung der Nacht. Doch jetzt konnte er sich noch nicht schlafen legen. „Nein, meine Gute, lass mich noch einen Moment. Ich will kurz hinausgehen, und dann werde ich noch ein wenig arbeiten.“

      Hamide wusste, dass es zwecklos war. Es gab Dinge, von denen nichts auf der Welt ihren Vater abbringen konnte. Und wenn er sich vorgenommen hatte, die Schreibfeder noch nicht zur Seite zu legen, dann würde er sein Vorhaben auch zu Ende führen. So ging sie in ihr Schlafgemach, und ihr Vater trat aus dem Haus ins Freie.

      Endlos erstreckte sich der Sternenhimmel über Abid. Auch wenn die Gestirne in dieser Nacht hell leuchteten, war es einfach unmöglich, ihre Menge zu zählen. Welch eine Weite, welch eine Größe!

      Er selbst hatte in seinem Leben viele kleine und große Wunder mit seinem Herrn erlebt, immer wieder sanft die Hand des Schöpfers gespürt und vernommen, wie dieser zu ihm sprach. Abid wusste jedoch, dass Gott sich im Lauf der Weltgeschichte den Menschen nicht immer auf diese Weise gezeigt hatte. Die Menschheit hatte den Kontakt zum Schöpfer verloren. Nach der Vertreibung aus dem Paradies verblasste die Erinnerung an diese Zeit mit ihm zusehends. Sein wahres Wesen kannten die Menschen kaum noch.

      Wenn Gott den Menschen suchte und wieder in Verbindung mit ihm treten wollte, dann musste er einen Weg wählen, bei dem er sich Stück für Stück offenbaren konnte. Alles andere würde den Menschen überfordern und würde auch dem Wesen Gottes nicht gerecht. Wie sollten sie lernen, ihm, dem Herrn der Welt, zu vertrauen und zu glauben? Abid wusste, dass Gottes Suche immer von Liebe geprägt war und dass er die Menschen nie überfordern wollte. Dennoch war Gott mit aller Macht in die dunkle Welt eingetreten.

      Abids Blick in den Sternenhimmel verriet ihm, wo er fündig würde, um das Suchen Gottes weiter zu beschreiben. So ging er zurück in sein Haus und öffnete eine große Truhe, in der er einige ganz besondere Schmuckstücke seiner Antiquitätensammlung aufbewahrte. Vorsichtig hob Abid einen siebenarmigen Leuchter heraus, den die Juden „Menora“ nannten. Dann entzündete er eine einzelne Kerze und betrachtete das flackernde Licht.

      Ganz langsam und behutsam war Gott vorgegangen, um aus der Dunkelheit zu treten und den Weg für das Licht der Welt zu ebnen. So wie Abid nur eine einzelne Kerze an diesem Leuchter entflammt hatte, so ähnlich hatte sich auch Gott verhalten. Sein erstes Rufen wurde von einem Mann in Ur im Land der Chaldäer gehört. Er war ein Mann, der anscheinend selbst nach Gott suchte und den dieser dann fand. Gefunden von dem suchenden Gott, verließ der Mann mit Namen Abraham seine Heimat und zog in ein fremdes Land namens Kanaan – damit begann die Geschichte der Verheißung.

      Gott hatte Abraham erwählt, weil er durch seine Familie und seine Nachkommen eines Tages die ganze Menschheit segnen wollte. Aber bis dahin sollten noch viele Jahrhunderte vergehen. Denn Gott wollte dieser Welt seinen Weg zur Rettung nicht aufzwingen.

      Abid griff nach seiner Bibel und fuhr mit seinem Finger über das Leder und die abgegriffenen Seiten. Wahllos blätterte er durch das Alte Testament: Geschichtsbücher, Weisheitsliteratur und Propheten. Die Geschichte eines Volkes mit seinem Gott, festgehalten in einem Buch. Er begegnete ihnen in Träumen, er vollbrachte große Taten und Wunder. Als eine Hungersnot über das Land Kanaan hereinbrach, war Jakob, der Enkel Abrahams, gezwungen, seine Heimat zu verlassen, und fand mit seiner Sippe in Ägypten Zuflucht. In Ägypten wurden die Nachkommen Abrahams zu einem großen Volk. Viele Generation lebten dort friedlich und wurden geachtet, doch dann wurden sie zu zahlreich und der herrschende Pharao begann, das fremde Volk zu unterdrücken.

      Abid kannte die Bilder und Zeichnungen, die diese Epoche des Volkes Israel zeigten. Die Israeliten mussten schwere Fronarbeiten verrichten, und als der Pharao um seine Macht fürchtete, befahl er, dass alle männlichen Kinder der Israeliten nach der Geburt getötet werden sollten. Es schnürte Abid den Hals zu, als er an dieses Grauen denken musste. Doch schon bald darauf sollte der Gott, der sich dieses Volk erwählt hatte, in die Geschichte eingreifen und sich der Willkür des Pharaos entgegenstellen. Und dazu würde er einen Mann berufen, der sein Volk anführen sollte.

      Gedankenversunken blickte Abid durch den Raum und wendete seinen Blick zu der brennenden Kerze auf dem siebenarmigen Leuchter. Langsam bahnte sich das weiche Wachs seinen Weg über die silbernen Arme. Immer wieder zuckten die Flammen und versprühten ihr Licht im Raum. Doch eins passierte nicht: Die Flammen sprachen nicht mit ihm. Aber genau dies war eines der bedeutendsten Ereignisse für das jüdische Volk. Und der Prophet Mose, der im Auftrag Gottes das Volk Israel aus der Knechtschaft in Ägypten führen sollte, hatte es erlebt. In einem Moment, in dem Mose nicht damit gerechnet hatte, begegnete ihm der Gott, der sich auch schon Abraham, Isaak und Jakob gezeigt hatte.

      An einem gewöhnlichen Tag hütete Mose die Schafe, als er plötzlich einen brennenden Dornenbusch sah. Der Busch brannte, und doch verbrannte er nicht. So schenkte Gott Mose in seinem Alltag eine Begegnung mit ihm selbst. Und als Mose Gott nach seinem Namen fragte, antwortete dieser mit den Worten: „Ich bin, der ich bin.“ Mit dieser Beschreibung unterstrich der ewige Schöpfer seine Unwandelbarkeit: Ich war, bin und bleibe in Ewigkeit derselbe.

      Von den brennenden Kerzen blickte Abid zu seiner Bibel und schlug diese erneut auf. Er musste noch einmal das Wort Gottes studieren und sich mit dem beschäftigen, was nach der Berufung von Mose am brennenden Dornenbusch geschehen war.

      Gott hatte seinen Propheten Mose zum Pharao gesandt, um durch ihn das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten zu führen. Nachdenklich erhob sich Abid aus seinem Lesesessel und ging zu seinem Bücherschrank. Zielstrebig blätterte er in einem Buch über Herrschertitel und ihre Bedeutung. Denn das, was bei der Befreiung aus der Knechtschaft geschah, wirkte auf ihn wie das Aufeinanderprallen von Mächten. Der Gott Israels gegen den Herrscher der Welt, der sich selbst als Repräsentant der Götterwelt und als Gottheit betrachtete, denn das war das Selbstverständnis eines Pharaos.

      Abid nahm wieder seine Bibel zur Hand und studierte die Geschichte aus dem zweiten Buch Mose, die von den Ereignissen am Nil erzählte. Mutig konfrontierte Mose mit seinem Bruder Aaron den Pharao mit den Worten Gottes und forderte ihn auf, den Israeliten die Freiheit zu schenken. Doch der Pharao wollte seine Sklaven nicht ziehen lassen, und so folgten die Plagen, die den Herrscher von Ägypten zum Einlenken bringen sollten. Blut, Frösche, Stechmücken, Fliegen, Viehpest, Geschwüre, Hagel und Heuschrecken – nichts konnte die Haltung des Herrschers verändern, denn der Gott Jahwe hatte das Herz des Pharaos verstockt, um der Welt seine Größe und Macht zu offenbaren (vgl. Römer 9,14 – 18). Dann kamen die neunte und die zehnte Plage: Finsternis und Tod.

      Lautlos legte Abid seine Bibel zur Seite. Für einen Moment schloss er seine Augen und die Welt versank in völliger Dunkelheit. Kein Mond, der sein mattes Licht verstrahlte, und auch keine Sterne, die einem den Weg erhellten. Achtsam legte Abid seine Hände über seine Ohren, und sogleich