Vollbracht. Christian Geiss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Geiss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742705976
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      Kapitel 1: Der verlorene Garten

      „Hamide, Liebes, bist du hier?“, rief Abid mit flattriger Stimme. Mit dem Handrücken schob er den kupfernen Behälter auf seinem Schreibtisch zur Seite und legte die Feder auf das Pult.

      „Du hast nach mir gerufen, Vater?“ Hamide stand nun dicht neben ihrem Vater, denn nicht nur dessen Stimme war nicht mehr so kräftig wie einst, auch seine Ohren vernahmen nicht mehr jedes Wort.

      „Gut, dass du da bist. Bring mir doch ein neues Tintenfass, dieses ist schon wieder leer.“

      „Wie weit bist du denn?“ Während Hamide fragte, griff sie nach dem leeren Töpfchen, ging zum Schrank in der anderen Ecke und holte einen kleinen, mit Tinte gefüllten Behälter heraus.

      „Gott ist zu groß und zu mächtig, um ihn in einzelne Worte zu fassen. Er ist so unermesslich wie das Meer und es ist einfach unmöglich, ihn in seiner ganzen Fülle zu beschreiben“, sinnierte Abid über das, was ihn beschäftigte.

      Mit einem Lächeln zog Hamide einen der hölzernen Stühle heran und setzte sich neben ihren Vater. „Wenn du nicht weißt, wo du anfangen sollst, dann starte doch mit dem, wie alles begann“, schlug sie ihm vor und tätschelte ihn liebevoll am Arm.

      Unter der Lampe auf Abids Schreibtisch befand sich eine aufgeschlagene Bibel. Dieses in Leder gebundene Buch war sein Ein und Alles. Falls er jemals fliehen müsste oder sein Haus und seine Heimat verlieren würde, so würde er vieles zurücklassen, aber nicht diese Worte.

      Auf seinen Reisen hatte Abid verschiedene Denker und Philosophen kennengelernt, doch keine Sicht auf diese Welt schien ihm so plausibel, so einleuchtend, so verändernd und so persönlich wie das, was er in der Heiligen Schrift, der Bibel, las.

      Mit immer noch ruhiger Hand griff er nach dem kleinen Etui, in dem er seine Lesebrille aufbewahrte. Leise klickend öffnete sich der Deckel und die runde Nickelbrille kam zum Vorschein. Genau wie diese Brille ihm verhalf, klar zu sehen, so betrachtete er die Welt und sein Leben seit einigen Jahren durch die Worte der Bibel. Diese Worte erklärten und erhellten die Welt. Die Sätze und Erzählungen, die darin für Generationen festgehalten waren, ergaben so viel Sinn. Nur in ihnen hatte Abid die Antworten auf die Fragen seines Lebens gefunden: Wer bin ich? Warum lebe ich? Wohin gehe ich?

      Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, schlug seine Bibel auf und begann zu lesen: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Langsam ließ er die Bibel wieder auf sein Schreibpult sinken und drehte den Globus, der nicht weit entfernt von ihm auf dem Tisch stand. In seinem Leben hatte er auf alle Kontinente seinen Fuß gesetzt. Afrikaner hatten ihn mit auf eine Löwenjagd genommen, in Südamerika war er bis zu den Galapagosinseln vorgedrungen und im Amazonasgebiet hatte er bei Einheimischen gewohnt. Diese Welt war schön – atemberaubend schön. Bei den ersten Sonnenstrahlen des Tages zu beobachten, wie Zebras durch die Savanne streifen, auf einer Bootsfahrt mit Delfinen zu tauchen oder am Gipfel eines Berges zu stehen und den Wind in den Haaren zu spüren – in all dem sah Abid Gottes Werk, seine Schöpfung. Sie war überwältigend, unvergleichlich, unbeschreiblich. „Liebes, kannst du mir bitte einen Tee holen?“

      Ohne Widerworte stand Hamide auf und verschwand hinter dem Vorhang in der Küche.

      Abid löste seinen Blick vom Globus, der sich immer noch langsam bewegte, und schaute aus dem Fenster. Wie sollte er jemandem erklären, dass Gott die Welt geschaffen hatte? Er konnte Gott ja nicht beweisen. Gott stellte sich in der Bibel als derjenige vor, der größer ist als das Denken der Menschen. Er ist zeitlos und im Neuen Testament heißt es: „Gott ist Geist und die, die ihn anbeten wollen, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“

      Es konnte gar keinen endgültigen Gottesbeweis geben, denn Gott und sein ganzes Wesen gehörten zu einer anderen Dimension. Deswegen können wir auch nicht mit den gleichen Fragestellungen an sein Wesen herantreten, mit denen wir unserem Leben oder der Geschichte dieser Welt begegnen, überlegte Abid.

      Und auch wenn Gott nicht bewiesen werden konnte und er der ganz andere war, dann erblickte Abid ihn, wohin er auch schaute. Die Welt mit all ihrer Schönheit war nichts Abstraktes; sie war konkret, greifbar, die Wirklichkeit. Dahinter musste ein realer Schöpfer stecken. Es musste jemanden geben, der mehr war als nur eine Idee. Jemand, der selbst lebte und vielleicht sogar der Ursprung und die Quelle allen Lebens war – der Ursprung des Seins.

      Ganz so wie der große Chemiker Louis Pasteur im 19. Jahrhundert festgestellt hatte, dass das Leben immer nur aus Leben entsteht. Ein Experiment und eine wissenschaftliche Feststellung, die bis heute nicht widerlegt waren.

      Und hatten die Aussagen von Gregor Mendel, dem Vater der Genetik, keinen Bestand? Dieser großartige Augustinermönch hatte belegt, dass es zwar eine Mikro-, aber keine Makroevolution gibt, und Darwin in seinen Gedanken widersprochen.

      Abid brauchte allerdings nicht die Theorien von Mendel und Pasteur in ihrer ganzen Tragweite zu verstehen, er hatte sein Leben lang mit Tieren gearbeitet und diese Erde bereist. Die Welt veränderte sich, das stimmte, aber es gab keine Zwischenstufen bei den Tieren und auch keine Menschen, die sich auf seltsame Weise zu höheren Wesen entwickelten. Die Evolutionstheorie wirkte plausibel, aber sie lieferte keine Begründung, warum die Welt und die Arten entstanden waren.

      Und auch die neusten Gedanken, die die Evolutionstheorie belegen und stützen sollten, konnten Abid nicht überzeugen: Aufgrund der unvorstellbaren Zahl an Sonnensystemen im Universum war es eine logische Schlussfolgerung, dass es eine Konstellation von Sternen und Planeten geben muss, die Leben ermöglicht. Das war der neue Ansatz der Wissenschaft. Im ersten Moment war der Gedanke schlüssig, aber er widerlegte nicht die Theorien von Pasteur, Mendel oder den 2. Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, dass Chaos der „Normalzustand“ ist.

      Doch alle diese Gedanken waren gefährlich, denn der Darwinismus und das Bestreiten eines Schöpfers bildeten die Grundlage für ganze Wirtschafts- und Weltsysteme. Nicht ohne Grund wurden unter Stalin die Erkenntnisse von Mendel verboten, und die Gedanken des Darwinismus und der daraus entwickelten Evolutionstheorie wurden in der Menschheit zum Sozialdarwinismus. Nur der Starke darf überleben und über das Schwache herrschen. Ein Gedankengut, das zur größten Katastrophe am Anfang des 20. Jahrhunderts geführt hatte. Eine Ideologie, die diese Welt verpestet und Abermillionen Menschen den Tod gebracht hatte.

      Abid schüttelte nachdenklich seinen Kopf. Das Wesen Gottes und seine Größe waren unergründlich, doch für ihn war der Gedanke einer Schöpfung schlüssiger als der Gedanke der Evolution und der Entstehung des Kosmos aus einem Urknall. Es gab zwar auch keine unwiderlegbaren Beweise für die Existenz Gottes, aber aus seiner Weltsicht und in seinem Menschenbild entdeckte Abid den Schöpfer der Welt auf vielerlei Weise. Mit Gott verhielt es sich aus Abids Sicht genau so wie mit seiner Tochter Hamide, die sich im Moment in der Küche befand.

      Gerade jetzt konnte er Hamide nicht sehen und er wusste trotzdem, dass sie ganz in seiner Nähe war. Einen Beweis dafür, dass sich Hamide gerade im Nachbarzimmer aufhielt, hatte er nicht – ebenso wenig wie er die Existenz Gottes beweisen konnte. Allerdings gab es Indizien: Geschirr klapperte, der Vorhang bewegte sich und es war ein leises Pfeifen zu hören. Abid müsste nur in die Küche gehen, und da stünde sie direkt vor ihm.

      So ähnlich verhielt es sich aus Abids Sicht mit der Existenz Gottes. Sie war nicht zu beweisen, aber aus seiner Sicht gab es genügend Indizien, die sein Dasein belegten: Die Schöpfung, das Gewissen eines Menschen und seine Sehnsucht nach dem Sinn des Lebens waren für Abid Indizien, dass Gott real war, und dennoch war ihm klar, dass er dies nur im Glauben erleben und begreifen konnte (vgl. Hebräer 11,3; ELB).

      Der Globus stand nun still und Abid griff nach seinem Stift. Nein, Gott beweisen könnte er nicht. Aber ebenso wenig konnte belegt werden, dass es ihn nicht gab.

      „Hier ist dein Tee.“ Hamide war hinter dem Vorhang hervorgetreten und kam nun mit einer dampfenden Tasse auf ihn zu. „Bist du vorwärtsgekommen?“, fragte sie und reichte ihm den Tee.

      Wortlos