Vollbracht. Christian Geiss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Geiss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742705976
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Art zu zeigen.

      Mit einem Lächeln auf den Lippen stand Abid auf und entzündete die zwei letzten Kerzen. Die sieben flammenden Dochte erhellten den ganzen Raum, und dort, wo das Licht hinfiel, musste die Dunkelheit weichen. Er griff nach der geöffneten Bibel. Dann stellte er sich neben den Leuchter und blätterte bis zum Johannesevangelium, das er schon fast auswendig kannte. Im tänzelnden Licht begann Abids Gesicht zu strahlen und er las wie schon so oft die ersten Kapitel.

      Gott hatte den Menschen nicht nur gerufen. Wie viele riefen nach den Menschen und ließen sie dann doch in die Irre laufen! Gott war nicht wie diese Menschen. Er wurde zum Menschen – der Höhepunkt seiner Suchaktivitäten. Gott rief nicht nur, er lief dem Menschen hinterher. Er gab alles auf und wurde verletzlich und schwach, und das allein aus einem einzigen Grund: Der Mensch sollte ihn wiedererkennen und seinen Ruf verstehen. Gott streckte nicht nur seine Hand entgegen. Er verließ seine Herrlichkeit, er gab seinen Glanz auf, um in die Dunkelheit der Welt und zu den Menschen zu treten. Aus Liebe, Schmerz, Sehnsucht und der Trauer um die Verlorenheit seiner Geschöpfe hatte Gott sich Stück für Stück offenbart, bis er sich schließlich ganz zu erkennen gab und seinen Sohn in die Welt sandte.

      Bevor Abid zu Bett ging, schrieb er noch einen letzten Satz unter seine Aufzeichnungen: Gott sucht uns, er ruft uns, er hat die Menschen nie aufgegeben. Er kam in unsere Verlorenheit, damit wir aus der Dunkelheit wieder ins Licht finden. Seine Liebe hört niemals auf und seine Güte währet ewiglich.

      Was für ein guter Gott, der ihn, den Verlorenen, gefunden hatte! Doch jetzt musste Abid schlafen, denn er war müde und morgen wollte er von dem schreiben, was er beim Propheten Jeremia über die Suche Gottes entdeckt hatte.

      Notizen

      Ein Blick in die Bibel

      Jeremia und die Suche Gottes nach dem Menschen (Jeremia 17,7 – 8; Hfa)

       Doch ich segne jeden, der seine Hoffnung auf mich, den Herrn, setzt und mir ganz vertraut. Er ist wie ein Baum, der nah am Bach gepflanzt ist und seine Wurzeln zum Wasser streckt: Die Hitze fürchtet er nicht, denn seine Blätter bleiben grün. Auch wenn ein trockenes Jahr kommt, sorgt er sich nicht, sondern trägt Jahr für Jahr Frucht.

      Dieser Vers des Propheten Jeremia enthält einen großen Teil der theologischen Leitgedanken des Alten Testaments: Es geht um eine Lebensveränderung und Vertrauen zu Gott im Jetzt sowie um eine Hoffnung und Zuversicht auf die Zukunft. Wer Jeremia, seine Berufung und seinen Auftrag kennenlernen möchte, der findet weitere Informationen in Jeremia 1,1 – 10.

      Der Prophet bereitet in seinen Worten das Volk Israel darauf vor, dass schwere Zeiten kommen werden. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist das Bild des Töpfers aus Kapitel 18. Gott kündigt in diesem Kapitel ein großes Gericht an und wir begegnen in den Versen einer Seite Gottes, die für uns oft so unbegreiflich wirkt: Gottes Zorn und seinem Gericht. Vielleicht ist besonders Jeremia 18 ein gutes Kapitel, um diesen Aspekt von Gottes Wesen immer mehr zu verstehen. Denn im Gegensatz zu einem unberechenbaren König oder Gott ist der Zorn des Gottes Jahwe nie willkürlich. Der Zorn und die Strafe Gottes sollen den Menschen in seinem Handeln zur Besinnung bringen und die Möglichkeit eines neuen Anfangs schaffen. Der Glaube und das Leben sollen wieder eins sein – dieser Gedanke durchzieht das Alte Testament, und dazu kündigt Gott das Gericht über sein Volk an und gibt es in die Hand des babylonischen Königs. Es geht um die Hinwendung zu dem Gott, der sein Volk sucht und es aus der Sklaverei erlöst hat.

      Wer die Geschichten des Alten Testaments zu der Frage untersucht, wie eine solche Hinwendung zu Gott aussieht, der findet viele verschiedene Beispiele. Da ist etwa Jakob, der Enkel von Abraham. In 1. Mose 32 wird beschrieben, wie sich ihm Gott selbst in den Weg stellt. Jakob hatte keine persönliche Gottesbeziehung, sondern er bezeichnete Gott als den Gott seiner Väter. Sehr vieles bleibt bei dieser Erzählung in der Schwebe. Eine spannende und gleichzeitig seltsam wirkende Geschichte erzählt von einem Ringkampf bei Nacht. Erst nachdem Gott sich Jakob bei diesem Ringkampf in den Weg gestellt hatte, veränderte sich dessen Leben. Nachdem Jakob die ganze Nacht mit Gott gerungen hatte, bezeichnete er Jahwe als seinen Gott und aus einer fernen Gottesbeziehung wurde eine persönliche, lebensverändernde Beziehung zu Gott. Durch die Veränderung, die Gott herbeigeführt hatte, wurde aus Jakob, dem Betrüger, ein anderer Mensch.

      Das Ziel aller Veränderung im Alten Testament soll eine engere Beziehung zu Gott sein, eine persönliche Gottesbeziehung, keine intellektuelle, keine anerzogene Beziehung, die eben zu meinem sozialen Umfeld und der Tradition gehört.

      Eine weitere Person, die umwälzende Zeiten im Leben erfahren musste, ist Hiob. Wie in dem Bild des Töpfers bei Jeremia in Kapitel 18 wurde Hiobs Leben zerdrückt und neu gestaltet. Am Ende seiner Leidenszeit, noch bevor Gott ihn erneut segnete, sagte Hiob: „Herr, ich kannte dich nur vom Hörensagen, jetzt aber habe ich dich mit eigenen Augen gesehen!“ (Hiob 42,5; Hfa). Aus einem fremden Gott wurde ein persönlicher Gott, ein Gott, der einen durch das Leid dieser Welt tragen kann.

      Gott sucht den Menschen, um ihn zurück in eine persönliche Beziehung mit ihm zu führen. Eine Beziehung, die unser Leben unmittelbar betrifft und verändert. Den Gott Jahwe als Herrn des eigenen Lebens zu erfahren, bedeutet vertrauensvoll und voller Zuversicht durch das Leben zu gehen, so wie es Psalm 23 beschreibt. Diese Hoffnung und Gewissheit, die zur Zeit des Alten Testaments nur das Volk Israel erleben durfte, wird eines Tages allen Menschen ermöglicht. Denn zum einen können wir die Erzählungen des Alten Testaments als tatsächlich geschehene Ereignisse betrachten, zum anderen können wir sie gleichzeitig als eine exemplarische Erzählung für Gottes Weg mit den Menschen sehen. Und im selben Moment eröffnet sich in unserer Sicht auf die Bibel eine Spannung, die wir nie ganz auflösen können. Denn wenn Gott größer ist als unser Denken, dann können wir über Gott nur in Bildern und Geschichten sprechen, und somit wären die Erzählungen im Alten Testament nicht wirklich geschehen, sondern exemplarische Berichte über Gott, sein Wesen und seinen Weg mit dieser Welt. Welche Sichtweise die richtige ist, wird sich letztlich nicht abschließend beantworten lassen, obwohl viele Stellen im Neuen Testament für tatsächlich geschehene Geschichten sprechen (Apostelgeschichte 7, Hebräer 11, Lukas 20,27 ff.). Entscheidender als die endgültige Antwort auf diese theologische Streitfrage ist der Glaube daran, dass die Geschichte oder die Wahrheit der Bilder aus dem Alten Testament auch unser Leben betrifft. Dass Gott auch unser Leben berühren möchte und er uns nie aufgegeben hat.

      Das Volk Israel musste aus der zerstörerischen Herrschaft des ägyptischen Pharaos befreit werden, genauso ist jeder Mensch von der grausamen Realität des Todes versklavt, und nur Gott selbst hat die Macht, den Tod zu besiegen.

      Wer für sich somit nachvollziehen kann, dass er aufgrund der Sünde von Gott getrennt ist und sein Leben von Dingen bestimmt und beherrscht wurde, die nicht zu Gottes sehr guten Schöpfung gehörten, der erahnt, dass er einen Befreier und einen Propheten wie Mose braucht, der ihn aus dieser Knechtschaft führt. Und hier liegt die Verbindung zur Geburt von Jesus und seinem Sterben am Kreuz von Golgatha, denn Jesus ist es, der für die Menschen zum Befreier werden möchte.

      Um diesen Gedankengang und die Verbindung zum Alten Testament in seiner Tiefe zu verstehen, ist es wichtig, einen weiteren Text aus dem Propheten Jeremia zu betrachten:

       So spricht der Herr: Es kommt die Zeit, in der ich mit dem Volk Israel und dem Volk von Juda einen neuen Bund schließe. Er ist nicht mit dem zu vergleichen, den ich damals mit ihren Vorfahren schloss, als ich sie bei der Hand nahm und aus Ägypten befreite. Diesen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich doch ihr Herr war! Der neue Bund, den ich dann mit dem Volk Israel schließe, wird ganz anders aussehen: Ich schreibe mein Gesetz in ihr Herz, es soll ihr ganzes Denken und Handeln bestimmen. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Niemand muss dann den anderen noch belehren, keiner braucht seinem Bruder mehr zu sagen: „Erkenne doch den Herrn!“ Denn alle – vom Kleinsten bis zum Größten – werden erkennen, wer ich bin. Ich vergebe ihnen ihre Schuld und denke nicht mehr an ihre Sünden. Mein Wort gilt! (Jeremia 31,31 – 34; Hfa)

      Dieser Text bezieht sich auf die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten und eröffnet gleichzeitig