Vollbracht. Christian Geiss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Geiss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742705976
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seine Augen noch fester zusammen und die Hände drückte er so gut er nur konnte auf seine Ohren. Völlige Finsternis, völlige Abgeschiedenheit von dieser Welt und kein Gott, der irgendwo zu sehen oder zu hören war. Ein Zustand der Gottesferne, eine Welt ohne jede Hoffnung: die Finsternis, dachte Abid.

      Er erinnerte sich daran, dass die Bibel diesen schlimmsten Moment von Gottes Zorn drei Mal beschreibt: bei der neunten Plage im Land Ägypten, an dem Tag, an dem Jesus auf Golgatha starb, und in Offenbarung 6, Vers 12. Drei Mal gab es die Beschreibung von Gottes Zorn, der sich in der Dunkelheit äußerte. Und alle Ereignisse stehen in einem Zusammenhang mit einer Befreiung, die Gott schenken möchte, dachte Abid.

      Trotz der grausamen Dunkelheit war der Pharao nicht bereit, den Israeliten die Freiheit zu gewähren. So kam es zur zehnten und letzten Plage: der Tötung der Erstgeborenen und der Einsetzung des Passahfestes (vgl. 2. Mose 12,29 – 33). Jede israelitische Familie, die in jener denkwürdigen Nacht in Ägypten das Blut eines Lammes an die Türpfosten strich, wurde von der grausamen Plage Gottes verschont. Und wie von Gott im Vorfeld angekündigt, entließ der Pharao das Volk nun in die Freiheit.

      In der Befreiung aus Ägypten zeigte sich der Gott Israels als der „wahre“ Gott; er war ganz anders als die Götter dieser Welt. Der Gott Israels war die Wahrheit, und der Glaube an ihn führte in die Freiheit – heraus aus der Knechtschaft. Abid wurde noch einmal klar: Den sichtbaren Göttern steht der unsichtbare Gott gegenüber. Der Zauber der Welt im Gegensatz zu dem Vertrauen in den, den wir nicht sehen und den wir doch in unserer Welt erfahren können.

      Adam und Eva hatten im Garten Eden ihr Vertrauen in das Wort Gottes verloren, und beim Auszug aus Ägypten schenkte das Vertrauen in Gott die Freiheit und führte in die Beziehung mit ihm. Der Schlüssel für die Befreiung lag im Glauben. Der Glaube, der ausreichte, um dem Wort Gottes zu vertrauen, und der zur Erkenntnis führte, dass der Glaube wahr ist und rettet. Dieses Grundmuster sollte für alle Zeiten bestehen: Glaube. Vertrauen. Erkenntnis.

      Nach der Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten gelangte das Volk in die Wüste und zum Berg Sinai, wo Gott ihm die Zehn Gebote schenkte. Und wie im Garten Eden zeigte sich auch hier, dass Freiheit nicht ohne Ordnung existieren kann. Freiheit ohne ein Ziel und einen Rahmen führt in die Anarchie – in die Katastrophe. So schenkte Gott dem Volk nach der Befreiung als Erstes seine Gebote. Diese gaben Schutz, Rahmen und Richtung, in denen ein Leben in dieser Welt und in der Freiheit bei Gott gelingen konnte (vgl. 2. Mose 20,1 – 2). Es waren Gebote der Liebe und des Schutzes. Denn Gott liebte die Menschen so sehr, dass sich die Sünde nicht weiter ausbreiten sollte.

      Und es waren nicht nur die lebensschenkenden Gebote, die die Zeit nach der Knechtschaft kennzeichneten, es war auch die permanente Gegenwart des rettenden Gottes. Tagsüber in der Wolkensäule und nachts in der Feuersäule führte er sein Volk. Er sprach mit Mose und versorgte das Volk mit Brot. Der Pharao quälte und knechtete die Israeliten, aber Gott, der auch uns aus der Sklaverei führen möchte, zeigte sich als gnädiger und liebender Gott (Lese­tipp: 5. Mose 6,21 – 23).

      Abid erhob sich und wollte schon die letzten Kerzen am Leuchter entzünden, als er von draußen das Blöken eines Schafes hörte. Sein ganzes Leben hatte Abid Tiere gehalten, und es gab in seinem Ort niemanden, der nicht eine Ziege oder ein Schaf besaß. Gott hatte die Tiere geschaffen, und auch Tiere waren seine geliebte Schöpfung. Gleichzeitig musste Abid an die Opferriten und den Tempeldienst denken, denn ein großer Teil des Alten Testaments drehte sich um diese Praktiken.

      Um über die Opferriten der Israeliten zu sinnieren, wollte er seinen Schreibtisch verlassen. Grübelnd erhob er sich und ging hinaus. Hinter seinem Haus entdeckte er eine Axt, die in einem Hauklotz steckte, an dem er vor einigen Tag ein Huhn geschlachtet hatte.

      „Wieso das Blut?“, fragte er sich, als er die Axt aus dem Holz zog und das vertrocknete Blut betrachtete. Für die modernen Menschen war der Opferkult im Alten Testament unbegreiflich. Doch im Kontext der damaligen Welt war er völlig einleuchtend. Wer den Vers aus 3. Mose 17,11 las, der konnte verstehen, wieso Gott dem Volk die Gebote und auch den Opferkult geschenkt hatte. Kaum ein anderer Vers zeigte deutlicher, dass in der antiken Welt das Blut als das Symbol für das Leben zu sehen war. Im Blut ist das Leben, und durch das Vergießen des Opfertierblutes geschah Sühne für die Schuld des Menschen. Eigentlich hätte der Mensch für seine Sünde gegenüber Gott den Tod verdient. Die Tieropfer symbolisierten Stellvertretung, Gnade und Gerechtigkeit. Gnade und Gerechtigkeit, die einem durch Glauben zuteilwurden. Derjenige, der die Opfer brachte, bezeugte damit, dass es eine sichtbare und eine unsichtbare Welt gibt. Er glaubte daran, dass Vergebung nötig ist. Das Blut des Tieres wurde vergossen, damit die Schuld den Sünder nicht traf.

      Abid begriff immer mehr, dass die Menschen nur durch die Erzählungen, Gebote und Rituale des Alten Testaments Gottes Weg der Rettung begreifen können. Ihm war bewusst, dass diese Praktiken für manche verstörend und nicht nachvollziehbar waren, doch die Rettung aus Ägypten, die Zeit in der Wüste und auch der Opferkult des Alten Testaments waren die Grundlage für alle weiteren theologischen Gedanken (Lesetipp: 2. Korinther 3,4 – 4,6).

      Zufrieden über seine bisherigen Erkenntnisse begab sich Abid wieder in seine Wohnung und zündete zwei weitere Kerzen an. Im Raum wurde es immer heller und der Schein der flackernden Dochte zog Abid in seinen Bann. Das zunehmende Licht erinnerte Abid an die Erzählungen der Bibel, die zeigten, wie Gott sich mehr und mehr den Menschen offenbarte und seinen Ruf „Adam, wo bist du?“ in die Weltgeschichte hineinwob.

      Die Geschichte der Welt wirkte oft pessimistisch. Eine stetige Abwendung von Gott, ein Zerfall der Welt und der Werte. Eine Welt, die für viele hoffnungslos erschien. Doch gegen diese verkommene Welt stand die Geschichte Gottes mit seinem Volk – das hatte Abid in den letzten Jahren begriffen. Er griff nach einem Stift und zog seinen Notizblock zu sich heran. Es war an der Zeit, ein paar entscheidende Punkte festzuhalten, die er bei seinen Studien über das Volk Israel gelernt hatte:

      Der Glaube im Alten Testament war immer ein Glaube der Hoffnung, dass Gott seine Verheißungen Wirklichkeit werden lässt. Ein Glaube, der ganz stark von der erwarteten und versprochenen Zukunft geprägt ist. Und gleichzeitig ein Leben mit Gott in der Gegenwart. Denn nicht durch Vernunft oder Wissen heilt die zerbrochene Beziehung zu Gott, sondern durch den Gott, der in der Geschichte erfahrbar wird: in der eigenen Lebensgeschichte. Dort, wo Menschen in der Bibel sich nach Gott ausstrecken, leise oder laut mit ihm reden, ihm Lieder singen, Gedichte schreiben oder ihn durch ihre Taten ehren, da berühren sich der Himmel und die Erde, da steht der Himmel offen. Es ist zwar immer nur ein Abglanz der verlorenen Beziehung aus dem Garten Eden, aber die Psalmen und Geschichten erzählen von den Momenten, in denen Gott und Mensch wieder zusammenfanden, weil Menschen anfingen, an Gott zu glauben (Lese­tipp: Hebräer 11 – 12,3 und 2. Korinther 5,7).

      Während Abid sich weiter einzelne Stichpunkte notierte, dachte er an die Feldarbeit, die er morgen noch zu erledigen hatte. Manche Dinge brauchten Zeit und sollten gut vorbereitet sein. Es war eine Vergeudung, den Samen für das nächste Jahr einfach so auf den Boden zu streuen. Der Boden musste vorher bearbeitet sein. In Gottes Geschichte mit dem Volk Israel hatte der Schöpfer den Boden der Welt für das Eigentliche vorbereitet und gleichzeitig alle Facetten der Glaubensreise und seines Wesens aufgezeigt.

      Abid blätterte durch die Bibel und studierte in den Büchern der Könige und Chroniken die Geschichte des Volkes Israel. Nach der Befreiung aus Ägypten folgten die Zeit der Stiftshütte und dann die Einnahme des verheißenen Landes und der Bau des Tempels. Eine Geschichte voller Höhen und Tiefen, die sich oft wie eine gescheiterte Liebegeschichte liest, in der Gott jedoch die Menschen, die er liebt, nie aufgibt, sondern durch sein Reden und Handeln immer wieder dazu einlädt, ihm zu vertrauen. Abid hatte gelernt, dass sich durch die Geschichte von Israel gleichzeitig die Perspektive für die Errettung der Welt eröffnete. Denn mit dem Beginn der Geschichte dieses einzigartigen Volkes sagte Gott zu Abraham: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde.“ Gott bereitete mit der Geschichte des Volkes Israel alles vor, um sich der ganzen Welt zuzuwenden, denn diese Geschichte wirkte unvollendet. Erst in der Verbindung mit dem Neuen Testament wird deutlich, was das Ziel von Gottes Heilsgeschichte ist, dachte Abid. Der allmächtige Gott, derjenige, der aus der Knechtschaft befreien kann und unabhängig aller Umstände