Vollbracht. Christian Geiss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Geiss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742705976
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suchte, verstörend. Was war das für ein sadistischer Gott, der einen verbotenen Baum in das Paradies stellte?

      Wie so oft fand Abid in der Fülle der theologischen Aussagen nur spärliche Antworten auf das Mysterium, das ihn hier beschäftigte: Vielleicht musste es die Bäume geben, damit Adam und Eva erkannten, dass sie trotz der Krone der Schöpfung nicht die Schöpfer waren und sie sich dem ewigen Gott unterzuordnen hatten. Oder möglicherweise waren die Bäume der Weg, auf dem Gott seiner Schöpfung ermöglichte, ihm ihre Liebe und Treue zu zeigen: Indem sie das eine Gebot hielten, drückten sie ihre Liebe und Treue zu Gott aus. Durch diese Sichtweisen waren die Bäume weder als Versuchung zu sehen noch als Verführung und auf keinen Fall sadistisch.

      Abid merkte jedoch, dass er an dieser und vielen anderen theologischen Fragen zerbrechen könnte, je länger er sich mit ihnen beschäftigte. Er musste hier mit offengebliebenen Fragen leben, ihm blieb keine andere Wahl. Deswegen hielt er sich an das, was er von Gottes Wesen begriffen hatte, und klammerte sich an die spärlichen Antworten, die er im Gesamtzusammenhang der Bibel zu diesem Thema entdeckte.

      Bis zum „Sündenfall“ war die Schöpfung der Welt sehr gut. Alles war perfekt und in einer absoluten Harmonie. Doch als der Mensch den Lügen des Teufels glaubte, bahnte sich das Chaos seinen Weg. Auf eine listige Weise stellte die Schlange die Aussagen Gottes infrage und suggerierte dem Menschen, dass Gott ihm etwas vorenthielt.

      Die beiden Bäume im Garten waren der Baum der Erkenntnis und der Baum des Lebens, notierte sich Abid. Erkenntnis in seiner ganzen Tiefe und das Leben in seiner vollen Fülle. Abid legte den Stift beiseite, als er allmählich begriff, was Gott dem Menschen im Garten versagte und was ihm nicht zustand zu begehren: Es war die Gottgleichheit. Das war es, was sich vielleicht hinter diesem Bild der beiden Bäume verbarg. Denn in Jesus liegen verborgen alle Schätze der Erkenntnis und der Weisheit (vgl. Kolosser 2,3), und Jesus sagte von sich, dass er das Leben ist (vgl. Johannes 14,6).

      Wegen der Verführung durch den Teufel wollte der Mensch nicht mehr, als selbst Gott zu sein. Er griff nach den Sternen und stürzte in die Tiefe. Der Teufel raubte den Glauben an Gott und versprach dabei das Leben – doch der Tod war die Konsequenz.

      Später gab es immer wieder Versuche, die Trennung zwischen Gott und dem Menschen nicht als Verlust, sondern als etwas Positives oder eine Befreiung zu deuten. Der kindliche Mensch emanzipierte sich von dem großen Gott-Vater. Und der Mensch musste sich doch von Gott befreien, denn Freiheit ist das höchste Gut. So dachten die Philosophen und Denker der Aufklärung um das Jahr 1790.

      Verstohlen schmunzelte Abid und blickte zu seiner Bibel. Die Kapitel 4 bis 11 im 1. Mosebuch beschreiben die Urgeschichte der Welt nach der Trennung von Gott. Eine Geschichte der Zerstörung, die sich fortwährend steigert und mit dem Turmbau zu Babel endet. Das, was als Freiheit ersehnt wurde, brachte nichts als Katastrophen und Leid. Und für dieses Leid waren der Mensch und das Böse verantwortlich.

      Aber auch diese Sichtweise auf das, was im Garten Eden passiert war, wurde von vielen längst infrage gestellt. Das Gespräch mit dem Bösen wurde als Selbstgespräch des Menschen interpretiert, das durch den Dialog mit der Schlange für jeden sichtbar wurde. Wenn Abid diesen Gedanken jedoch weiterdachte, dann war auch das Gespräch mit Gott möglicherweise nur ein Selbstgespräch, und dann existierten sowohl Gott als auch das Böse rein in der Gedankenwelt von Adam und Eva (vgl. 1. Mose 3,14 – 19).

      Während Abid einzelne Gedankenfetzen niederschrieb, betrachtete er den Scherbenhaufen aus zerbrochenen Tellern. Ohne ein Eingreifen von außen war das Chaos der Normalzustand. Als die Beziehung zwischen Gott und den Menschen zerbrach, da bahnte sich die Zerstörung den Weg in diese Welt, und jeder Mensch war von diesem Zustand betroffen – ausnahmslos.

      „Entschuldigung, Vater, ich weiß, dass dir das Geschirr viel bedeutet hat.“ Hamide stand mit traurigen Augen da und hielt einen Eimer mit den Scherben in der Hand.

      „Ist nicht schlimm, es waren ja nur Teller; wir finden bestimmt schnell Ersatz“, antwortete Abid und wandte sich wieder seinem Schriftstück zu. Wenn doch aller Zerbruch so einfach zu beseitigen wäre, dachte Abid und überlegte, was er als Nächstes schreiben sollte. Da standen sie also, Adam, Eva und ihr Schöpfer. Jeder trauerte über das Geschehene, aber alle waren sie in diesem Moment nicht in der Lage, die Scherben wieder zusammenzufügen. Und so formulierte Abid:

      Etwas Schlimmes war geschehen. Die Menschen, die vorher dem liebenden Gott begegnet waren, begannen, sich vor ihm zu fürchten. Das Gottesbild hatte sich verzerrt. Der, der bis eben noch der liebende Vater war, wurde zu einem Wesen, vor dem sie sich fürchteten. Der Kern von dem, was dort geschehen war, wurde sichtbar: Eine gestörte Beziehung und ein falsches Gottesbild hatten die Welt betreten.

      Abid überlegte: Was sollte nun geschehen? Der heilige, liebende Gott, zu dessen Wesen es gehört, dass er absolut gerecht und gleichzeitig barmherzig ist, tat, was er tun musste: Er schickte den Menschen aus seiner Gegenwart weg.

      Ja, wie sollte ein heiliger, völlig reiner Gott in enger Gemeinschaft bleiben können mit Menschen, die ihre Reinheit verloren hatten? Das war unmöglich. Auf diese Weise kam die große Trennung zwischen Gott und Mensch in diese Welt und Gottes Ankündigung des Todes hatte sich erfüllt. Dabei bedeutete der Tod für Adam und Eva in diesem Moment nicht das Ende ihres Lebens, sondern das Ende ihrer innigen Beziehung zu Gott. Der Mensch wurde von seinem Schöpfer getrennt und musste den Garten verlassen. Adam und Eva waren als Menschen nicht in der Lage, das Geschehene aus der Welt zu räumen. Was würde Gott nun unternehmen, um gleichzeitig gerecht und barmherzig zu sein? Denn eines stand für ihn trotz alledem fest: Er wollte seine Menschen nicht aufgeben.

      Nachdenklich legte Abid seinen Stift zur Seite und betrachtete seine Bibel. Er hatte sie einst von seinem Großvater geschenkt bekommen und dieser hatte schon sein Leben lang in diesem Buch geforscht. „Die Bibel ist kein Lehrbuch der Geschichte und auch kein Lehrbuch der Naturwissenschaft“, hatte sein Opa immer gesagt.

      Sie ist auch in diesen Punkten von Bedeutung, aber im Kern geht es um etwas anderes, dachte Abid. Der Kern ist die Offenbarung Gottes. Wie kann Gott sich den Menschen offenbaren? Wie wird seine Offenbarung zur Geschichte in dieser Welt? Zu einer Geschichte, in der es um Heilung und Versöhnung geht: um Gottes Heilsgeschichte mit dieser Welt. Das große Bild der Bibel, das wollte Abid in den folgenden Kapiteln versuchen zu beschreiben. Die große Geschichte, die immer mit dem Glauben beginnt. Mit einem Glaubens- und Vertrauensvorschuss, dass ein ewiger Gott existiert. Ein Gott, der die Menschen liebt und der ihnen in einer Welt voller Zerbruch und Leid Hoffnung schenken möchte. Ein Gott, der den Menschen eine Zukunft verheißt und dessen Liebe zu seiner Schöpfung nie aufgehört hat.

      Knarrend öffnete sich die Haustür und Hamide kam mit dem leeren Eimer zurück. Sie hatte die Scherben beseitigt. Mit ihr kam ein frischer Windhauch durch die Tür.

      „Hamide, mein Schatz, habe ich dir eigentlich schon einmal den Römerbrief erklärt?“ Mit diesen Worten blätterte Abid in seiner Bibel im hinteren Teil und suchte in dem Brief, den der Apostel Paulus an die Christen in Rom geschrieben hatte, das dritte Kapitel. Immer und immer wieder hatte Abid die sechzehn Kapitel des Römerbriefs studiert und auch darüber gepredigt. Hier wurde systematisch aufgezeigt, in welchem Zustand sich der Mensch und die Welt befinden und wie Gottes Weg aussieht, die zerstörte Beziehung zwischen den Menschen und Gott wieder zu heilen. Abid hatte heute nicht die Zeit, um mit Hamide alle einzelnen Kapitel und Gedanken zu erörtern. Daher wollte er sich auf die Kapitel beschränken, die über den Zustand des Menschen ohne Gott sprechen.

      „Nein“, antwortete Hamide, stellte den Eimer ab und ging hinüber zu ihrem Vater.

      „Dann nimm dir doch mal einen Stuhl. Ich will dir etwas Wichtiges zeigen.“

      Notizen

      Ein Blick in die Bibel

      Römer 3,11 – 12.23 (Hfa)

       Es gibt keinen, der einsichtig ist und nach Gott fragt. Alle haben sich von ihm abgewandt und sind dadurch für Gott unbrauchbar geworden. Da ist wirklich keiner, der Gutes tut, kein Einziger.