Paradoxe Gerechtigkeit. Stefanie Hauck. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefanie Hauck
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738037500
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finden, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr mit seiner Besserwisserei andere Menschen an den Rand des Wahnsinns zu treiben.

      Jerry schüttelte sich unwillkürlich bei dem Gedanken an seinen Bruder.

      Nur gut, dass ich den schon lange nicht mehr gesehen habe und auch in den nächsten Jahrzehnten nicht sehen werde, dachte er. Die Karibik ist nichts für Thomas, viel zu lebenslustig für einen knochentrockenen Spießer wie den. Bei Thomas muss alles immer ganz gesittet zugehen. Wahrscheinlich macht der sogar Sex nach Gebrauchsanleitung.

      Jerry konnte sich nicht vorstellen, dass sein Bruder mal in eine Situation geraten könnte, in der er sich total gehen ließ.

      Gut, dass dieses Verhalten nicht erblich ist, dachte er, aber es tut bestimmt weh. Wahrscheinlich schluckt er den ganzen Tag Schmerztabletten, um es ertragen zu können. Vielleicht ist er deshalb auch so verbiestert. Egal, verschwende bloß nicht noch mehr Gedanken an diesen Besserwisser, Jerry. Er ist zum Glück weit, weit weg.

      Gerade in dem Moment, als sich Jerry entschlossen hatte, nicht mehr an seinen Bruder zu denken und sich genüsslich in die Hängematte kuschelte, sah er einen Mann am Strand entlang auf ihn zukommen. Aufgrund der untergehenden Sonne konnte er ihn erst nicht gut erkennen.

      “Bist du das, Eugenio?”, meinte er fragend in die Richtung des Besuchers und kniff die Augen zusammen. Dann aber fuhr er wie von der Tarantel gestochen hoch und rieb sich die Augen. Das war eine Fata Morgana, hoffentlich war es eine! Er hatte doch im Schatten geschlafen, sonst hätte er auf Sonnenstich getippt.

      Das ist ein Alptraum, dachte Jerry, ich schlafe wohl noch. Gott im Himmel, mach, dass ich nur was an den Augen habe oder lass mich aufwachen. Ich hätte nicht an diesen Besserwisser denken sollen, dann bricht das Unglück automatisch über mich herein.

      Aber jetzt stand der Mann auch schon vor ihm und meinte: “Hallo Jeremiah. Ich hoffe, es kommt dir nicht ungelegen, dass ich dich besuche?!”

      Vor ihm stand in voller Lebensgröße sein Bruder, Dr. Thomas McNamara.

      Jerry wäre fast aus der Hängematte gefallen. Für einen Moment machte er den Mund nur auf und zu wie ein Fisch. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Wie kam sein Bruder hierher? Warum konnte er ihn noch nicht einmal hier in Ruhe lassen? Natürlich kam es ihm ungelegen, dass er ihn besuchte. Was sollte der blöde Spruch.

      Nachdem sich Jerry von dem Schrecken erholt hatte, knurrte er Thomas an: “Natürlich kommt es mir ungelegen, dass du mich besuchst. Ich denke, ich hatte mich klar ausgedrückt, als ich sagte, dass ich jetzt weggehe und du mir dorthin nicht folgen sollst und dass ich dich vor allem nie wiedersehen will!”

      Auch wenn Thomas seinen Bruder am liebsten zusammengestaucht hätte wegen dieser abweisenden Worte, so wunderte es ihn in gewisser Weise noch nicht einmal, dass Jerry ihn derart angefaucht hatte. Schließ­lich hatte er sich dieses erste Wiedersehen genauso vorgestellt. Ferner hatte er auch nicht vorgehabt, es wirklich nochmal mit Jeremiah zu versuchen, sondern er hätte Jerrys abweisende Haltung als Vorwand genommen, um zu behaupten, dass der Bruder unversöhnlich sei. Dann hätte er sich sein Lebtag nicht mehr um ihn zu scheren brauchen, und niemand hätte ihm vorhalten können, er habe es nicht versucht, eine Einigung herbeizuführen.

      Weil Thomas auf Jerrys patzige Bemerkung nichts zu sagen wusste und irgendwie wie betäubt dastand, wurde Jerry unruhig. Zumindest aber war er erstaunt, dass Dr. Besserwisser nicht direkt eine passende Antwort parat hatte. Normalerweise hätte der Richter ihn nämlich mindestens genauso frech zurück angeknurrt. Deshalb sprach Jerry seinen Bruder mit schiefgelegtem Kopf nochmal an.

      “Tom”, meinte er, “Tom, bist du das wirklich?!”

      Das Stichwort “Tom” löste die Starre des älteren Bruders.

      “Ja, ich bin es wirklich, Jeremiah”, murrte er, “und ich bin genauso ungehalten wie früher, wenn du mich nicht vernünftig mit meinem richtigen Namen anredest, sondern diese elende Abkürzung benutzt.”

      “Na, dann bin ich aber beruhigt”, hielt Jerry grinsend dagegen, “ich dachte schon, du wärst nur ein Geist, und ich hätte eine Halluzination. Wie schön, dass mit mir gesundheitlich alles in Ordnung ist.”

      Thomas verzog nur den Mund, sagte aber nichts. Es entstand eine Pause. Keiner der beiden wusste so richtig, was er sagen sollte. Schließ­lich ergriff Jerry das Wort.

      “Da du es nun schon mal wirklich bist, mein Herr Bruder Tom”, begann er, “wüsste ich doch ganz gern, warum du hier aufgetaucht bist und dazu noch so plötzlich.”

      Thomas kochte zwar innerlich, aber riss sich sehr zusammen, denn von Jeremiahs Unterstützung hing im Moment alles ab.

      “Nun”, erwiderte er zögerlich, “ich... ich wollte mich mit dir versöhnen...”

      Weiter kam er nicht, weil Jerry ihm dazwischen fuhr.

      “Du wolltest was?!”

      “Ich wollte mich mit dir versöhnen”, entgegnete Thomas fast schon kleinlaut.

      Jerry schüttelte den Kopf, erhob sich aus der Hängematte und kam einige Schritte auf seinen großen Bruder zu.

      “Und woher rührt dieser erstaunliche Sinneswandel?”

      “Ich... nun ja, ich habe ein schlechtes Gewissen bekommen...”

      “Ein schlechtes Gewissen?! Weshalb?!”

      “Wegen unseres dummen Streits von damals.”

      Jerrys sah Thomas an, als könnte er es nicht fassen. Aber dann verzog er sein Gesicht zu dem schönsten Grinsen.

      “Du hast ein schlechtes Gewissen bekommen”, meinte er lä­chelnd, “Tom, du bist einfach unglaublich. Vielleicht sollte man dreistes Lügen in den Katalog der Todsünden aufnehmen, dann würdest du nämlich mit Sicherheit in der Hölle landen. Ein schlechtes Gewissen hat der Dr. Besserwisser bekommen. Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Vergiss es, Tom, du kannst vielleicht deinen Leuten in New York einen Bären aufbinden, aber nicht mir. Du und ein schlechtes Gewissen bekommen? Eher konvertiert der Papst zum Islam.”

      “Das ist nicht komisch, Jeremiah!”, entgegnete Thomas und wurde jetzt doch ein bisschen knurrig, “warum glaubst du mir nicht, dass ich mit dir über die Sache von damals reden will?!”

      “Weil es gar nichts bringen würde”, hielt Jerry dagegen, “es wäre reine Zeitverschwendung. Oder hast du etwa die Spielregeln vergessen? Dr. Thomas McNamara hat immer Recht. Nee danke, das muss ich nicht nochmal haben. Und wieso redest du von der Sache? Es gab nicht nur eine Sache, es gab Hunderte von Sachen. Selbst wenn wir die Spielregeln ändern und du mal nicht Recht haben solltest, säßen wir bis in alle Ewigkeit hier, weil es so viel zu besprechen gibt. Und dafür ist mir meine Zeit zu schade. Also verschwinde und lass dich nie wieder hier blicken.”

      Damit wandte sich Jerry ab und ging hinüber zu seinen Booten.

      “Jeremiah”, rief Thomas hinter ihm her, “wenn du schon mir nicht glaubst, dann frag doch Tante Laetitia, der glaubst du doch oder? Und wenn dich das nicht überzeugt, kannst du auch Martha und Sophie anrufen. Ich gebe dir die Nummer. Und Philip, mein Kollege, kann es dir auch bestätigen.”

      Jerry war ziemlich erstaunt über diese Aussage und fuhr herum.

      “Ist das ein Komplott oder was? Auf einmal können mir ganz viele Leute bescheinigen, dass du es ehrlich meinst. Wie seltsam.”

      “Jerry, bitte...”

      “Oh, Dr. Besserwisser hat registriert, dass man meinen elenden Vornamen abkürzen kann. Und ich wette, du hast dich erinnert, dass ich diese Anrede lieber mag als Jeremiah.”

      “Jerry, wenn du weder mir noch den anderen glauben willst, dass ich es ernst meine, dann betrachte mich doch bitte einfach nur als einen Kunden.”

      “Darüber könnte ich nachdenken.”

      Thomas atmete erleichtert auf.

      “Dir scheint es ja sehr wichtig zu sein”, schnaufte