Wenn Licht die Nacht durchdringt. Sandra Andrea Huber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandra Andrea Huber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847678014
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seine Nase vergraben konnte.

      Endlich machte der Aufzug im fünften Stock halt, er stieg aus, die flirtende Krankenhausangestellte glücklicherweise nicht.

      Während er den Flur entlangschlenderte, sah er sich möglichst unauffällig um. Nachdem er der Abzweigung zur linken, erst mal weg vom Stationsbüro, ein paar Schritte gefolgt war, fiel ihm ins Auge, was er gesucht hatte. Er prüfte kurz, ob jemand in der Nähe war und in seine Richtung sah, dann ging er mit gezielten und selbstbewussten Schritten auf den Rollstuhl zu und schob ihn vor sich her, als wäre es seine Aufgabe. Jetzt hieß es: Daumen drücken.

      Mit selbstsicherer Miene rollte er den Stuhl durch den Flur, klopfte an die erste Zimmertür und trat ein. Eindeutig nicht die Frau, die er suchte. Er entschuldigte sich und versuchte es im nächsten Zimmer.

       Zu alt. Männlich. Zu alt. Eindeutig nicht die Frau, die er suchte.

      Immer wieder murmelte er ein entschuldigendes „falsches Zimmer“ und verdrückte sich hastig wieder nach draußen, ehe ihn jemand fragen konnte, zu wem er eigentlich wollte.

      Nach vierzehn Fehltritten und einem inzwischen extrem angespannten Nervenkostüm, erreichte er ein Zimmer, in dem eine junge Frau lag, die schlief. Über ihre Wange spannte sich ein großes, weißes Pflaster.

      Er verspürte den Impuls sich dem Fuß des Bettes zu nähern und die Krankenakte aus der Halterung zu ziehen. Langsam und leise gab er diesem Impuls nach und überflog den kurzen Bericht.

       Name: unbekannt.

       Alter: unbekannt; geschätzt zwischen 22 und 26.

       Anamnese: Unterkühlung, Schnittwunden auf Körper und Wange, Prellungen, blaue Flecken, Kopfverletzung.

       Diagnose: Gedächtnisverlust (möglicherweise aufgrund eines Schädel-Hirn-Traumas); Schock?; Posttraumatische Belastungsstörung?.

      Jackpot, ging es ihm durch den Kopf.

      Er steckte die Akte leise zurück und besah sich die Frau genauer. Wie sie so dalag, wirkte sie sehr zerbrechlich. Sie kam ihm etwas jünger vor, als er selbst war, etwa so alt wie Marah. Ihr Haar war hellbraun und reichte ihr glatt bis über die Schultern.

      Jonathans Augen folgten dem Schlauch, der aus ihrem rechten Unterarm in einen Infusionsbeutel führte. Wunderbar, dachte er verdrießlich. Er würde sie davon losmachen müssen. Bei dieser Vorstellung überkam ihn ein unbehagliches Schütteln. Nein, er wollte nicht daran herumfummeln. Außerdem, womöglich war die Infusion wichtig. Er würde den Beutel einfach mitnehmen.

      Nachdem er nochmals einen tiefen Atemzug getan hatte, räusperte er sich vernehmlich.

      * * *

      Gwen zuckte zusammen, schlug die Augen auf und sah einen blondhaarigen, leicht lockigen Mann vor sich. Unwillkürlich sog sie nach Luft – dann erkannte sie, dass er die weiße Krankenhauskluft trug. Nur ein Mitarbeiter, formte sich der beruhigende Gedanke in ihrem Kopf.

      „Alles in Ordnung. Ich bin hier, um Sie für eine Untersuchung abzuholen.“

      Sie stutzte, der Anflug von Skepsis stieg in ihr auf. „Eine Untersuchung? Was für eine Untersuchung? Geht das nicht auch hier im Zimmer?“

      „Nein, wir … ich bringe Sie zum Röntgen. Wie Sie sehen“, ihr Gegenüber machte eine lächelnde Geste mit den Armen, „ist hier kein Gerät, mit dem ich Sie röntgen könnte – wenn ich Sie röntgen würde, das macht natürlich … ihr Arzt. Er hat einen, ähm … Scan vorgeschlagen, da Sie sich doch an nichts erinnern können.“

      Gwen biss sich auf die Unterlippe. Sie war nicht vollständig von der Wahrheit seiner Worte überzeugt. Irgendetwas an diesem Pfleger kam ihr seltsam vor.

      Er griff nach dem Infusionsbeutel, löste ihn aus der Halterung und reichte ihn ihr. „Hier, halten Sie den bitte. Können Sie sich aufsetzen? Und aufstehen? Oder soll ich Sie in den Stuhl heben?“

      Immer noch hatte sie ein merkwürdiges Gefühl. „Warum soll ich den Beutel halten? Warum rollen Sie nicht einfach den Ständer neben dem Stuhl her?“

      Der Blondhaarige sah aus, als würde er mit Mühe etwas herunterschlucken. „Ja, da haben Sie recht.“ Er griff den Beutel und mühte sich ab, ihn wieder in die Halterung zu bekommen. „In Ordnung, soll ich Ihnen jetzt helfen oder nicht?“

      „Ich glaube, ich schaffe es alleine“, erwiderte sie gedehnt. Langsam setzte sie sich auf und legte die Beine über die Bettkante. Ihr ganzer Körper fühlte sich ungemein schwer und ungelenk an.

      Der Pfleger schob den Stuhl näher an sie heran. „Hier.“

      Sie stand auf und schwankte leicht unter der Last ihres Gewichts, doch der Mann griff ihr unter die Arme und half ihr in den Rollstuhl. „Danke“, hauchte sie.

      „Kein Thema.“

      Sie hob den Kopf, die Zimmertür im Blickfeld – und fasste Nikolaj ins Auge. Er stand im Türrahmen, die Hände vor der Brust verschränkt und immer noch diesen verschlossenen, abweisenden und harten Ausdruck im Gesicht tragend. Auf Haar und Mantel glänzten kleine Wasserperlen.

      Reflexartig nahm sie einen tiefen Atemzug. Wieso war er noch immer hier? Wollte er sie mit sich nehmen, sobald man sie entließ? Was ging in ihm vor?

      „Was machen Sie da?“ Nikolajs Stimme drang dunkel durch den Raum. Eine herausfordernde Frage – an den Pfleger gerichtet.

      Gwen konnte das Gesicht des Krankenhausangestellten nicht sehen, doch ruhte Nikolajs Blick nun nicht mehr auf ihr, sondern auf dem Mann hinter hier. Keiner der beiden sagte etwas. Sie vermutete, dass sie sich musterten. Nur warum sie das taten, derart ausgiebig und mit dieser merkwürdigen Stimmung in der Luft, war ihr nicht klar.

      „Ich fahre diese Patientin zu einer Untersuchung“, kam es schließlich aus ihrem Rücken.

      Nikolaj musterte den Pfleger abermals durchdringend. Skepsis lag auf seinen Zügen, ebenso wie Abneigung. „Warum?“

      „Warum was?“, patzte der Pfleger zurück.

      „Was für eine Untersuchung soll das sein? Wo ist ihr Arzt?“

      „Geht Sie das etwas an?“ Seine Worte klangen immer härter. Schließlich setzte sich der Rollstuhl in Bewegung. „Entweder Sie gehen jetzt aus dem Weg oder ich rufe den Sicherheitsdienst. Wollen Sie das?“

      Ihr Herz pochte schneller, je näher sie Nikolaj kam. Mit einer Hand umklammerte sie die Armstütze des Rollstuhls, die andere hatte sie fest um den Stab des Infusionshalters geschlossen. Leichte Übelkeit stieg in ihr auf. Seine Anwesenheit löste Lawinen in ihr aus, die sie gleichsam erschütterten und unter sich zu begraben drohten.

      „Das war mein ernst“, kam es wiederholt aus ihrem Rücken. „Soll ich den Sicherheitsdienst rufen?“ Diesmal lag unüberhörbar eine Drohung in der Stimme des Pflegers. Es klang, als würde er die Aufgabe des Sicherheitsdienstes am liebsten direkt selbst übernehmen.

      Nikolaj bewegte sich nicht und erwiderte nichts. Abermals herrschte ein paar Sekunden lag diese merkwürdige und spannungsgeladene Energie in der Luft. Dann trat er tatsächlich zur Seite. Wortlos. Jedoch nicht, ohne den Mann hinter ihr mit einem funkelnden Blick zu durchbohren. Seine Iris war ein Mischmasch aus Blau und Schwarz, das seltsamerweise aussah, als wäre es … in Bewegung. In unruhiger, aufgewühlter Bewegung.

      Eine Erinnerung stob an die Oberfläche. Dunkelheit – und ein blauschwarzes Augenpaar, das daraus hervorstach, wie der Mond und die Sterne es am Nachthimmel taten. Doch weder Mond noch Sterne waren bedrohlich, bedeuteten Gefahr, waren tückisch oder falsch. Beide erhellten den Weg, schenkten Licht und Führung. Nikolaj hatte sie durch das Portal zurück in die Menschenwelt gestoßen, sie vom Spielplatz aufgelesen und in dieses Krankenhaus gebracht. Er hatte sie gerettet –aus der Situation samt Folgen, in die er sie gebracht hatte. Wie viel Gewichtung und Wert verdiente diese Tat also? Nach allem, was passiert war? Sie wusste nicht, was er von ihr wollte, warum er noch hier war,