Wenn Licht die Nacht durchdringt. Sandra Andrea Huber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandra Andrea Huber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847678014
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er ihren Vater umgebracht hatte. Wenn man die kurzweilige und stumme Begegnung im Marofláge nicht mitzählte – und das tat sie nicht.

      „Soll ich Ihnen vielleicht etwas zur Beruhigung geben? Sie scheinen immer noch sehr aufgewühlt“, sagte der Arzt und deutete auf den Monitor.

      „Nein, ich brauche kein Sedativum.“ Sie biss sich abermals auf die Zunge. Mit Fachbegriffen zu jonglieren sorgte nicht unbedingt dafür, ihre Aussage, sich an nichts erinnern zu können, zu kräftigen. „Ich meine … ich sollte vermutlich einfach ein bisschen schlafen. Alleine, wenn das möglich ist.“

      „Natürlich ist das möglich“, erwiderte der Arzt nach ein paar Sekunden. „Ich habe dem jungen Mann nur erlaubt hier zu bleiben, weil niemand von Ihren Angehörigen hier war und er wissen wollte, ob Sie in Ordnung sind. Er meinte, da er Sie gefunden hat, würde er bleiben wollen, bis Sie aufwachen. Immerhin sei er nun in die Sache mitverwickelt.“

      In die Sache mitverwickelt.

      Gwen spürte, dass ihr Tränen in die Augen trieben und versuchte sie wegzublinzeln. „Das kann ich … verstehen. Vielen Dank“, presste sie an Nikolaj gewandt hervor, ehe sie wieder den Arzt ansah. „Aber jetzt wäre ich wirklich gerne alleine. Ich bin müde und ziemlich wirr im Kopf.“

      Der Arzt ging auf die Zimmertür zu und nickte Nikolaj auffordernd zu. „Kommen Sie, lassen wir der jungen Dame ihre verdiente Ruhe.“

      Nikolaj stand nicht gleich auf. Er zögerte, das konnte sie erkennen. Nicht an seinem Gesicht, das immer noch ausdruckslos war, doch an seiner Körpersprache.

      „Würden Sie …?“, setzte der Arzt abermals an und ließ das Satzende bedeutungsschwer in der Luft hängen.

      Langsam, immer noch zögernd, erhob sich Nikolaj vom Stuhl und folgte dem Mann langsam nach draußen. Nicht ohne ihr nochmals einen Blick zuzuwerfen, der immer noch nicht mehr enthielt als leeres und stummes Nichts.

      * * *

      Nikolaj verfolgte mit rasendem Herzschlag, wie Gwen langsam zu sich kam. Er verhakte die Füße ineinander und verschränkte die Arme vor der Brust, so fest, dass es fast wehtat, nur um nicht hochzuschrecken und an ihr Bett zu treten. So viel Gefühlsregung konnte er sich nicht erlauben. Zum einen, weil er Gwen offiziell nicht kannte, sie nur gefunden hatte und zum anderen, weil er es nicht ertragen konnte, zur Gänze zu empfinden, was er empfand.

      So beobachtete er aus einigen Metern Entfernung, wie sie die Augen aufschlug, der Arzt ruhig auf sie einredete, ihn erwähnte und er schließlich in Gwens erschrockenen Blick geriet. Er erwiderte ihn, doch legte er keinerlei Ausdruck in sein Gesicht.

      Während der Arzt abermals auf sie einredete, presste er seine Arme noch dichter an seine Brust und musste unwillkürlich an das Bild denken, das sich ihm geboten hatte, als er sie gefunden hatte.

       Keuchend kam er auf Händen und Knien auf. Der Stoff seiner Hose zog kühle Nässe auf, seine Handflächen pochten gegen die weiße Kälte an, die sich auf dem Grund ausgebreitet hatte und seine Haut berührte. Es stach, doch war die Kälte gleichsam beruhigender Balsam für seine aufgeschürften und bebenden Hände. Er gab sich noch ein paar Sekunden, dann erhob er sich und sah sich schwer atmend um.

       Er entdeckte sie sofort. Entdeckte die zierliche, in spärlichen und dünnen Stoff gekleidete Gestalt, die dort im weißen Schnee lag, wie ein roter Schneeengel oder ein blutender Geist. Hellrot das Kleid, weiß ihre Haut, feurig rot das Blut, das über ihre – aus ihrer – Haut sickerte. In seinem Kopf überschlugen sich laute, schrille, leise und flüsternde Stimmen, die ihn auslachten, zum Teufel wünschten, lobten, ermunterten, anstachelten.

       Er lief auf Gwen zu, blieb dicht vor ihr stehen, war sich bewusst, dass sie sofort zu einem Arzt musste, wusste aber dennoch nicht, ob er sie anfassen konnte, sie bewegen sollte. Der Gedanke, sie sei tot oder würde es womöglich bald sein, bohrte sich wie eine brennend heiße Klinge in seine Brust und zerfetzte sein Herz. Doch weit schlimmer, gnadenloser und schmerzender loderte ein weiterer Gedanke in ihm: Es war seine Schuld. Dies hier war seine Schuld. Alles war seine Schuld.

       Er zog sich den Mantel vom Leib, ließ sich auf die Knie sinken und legte ihn über Gwen. Dann führte er drängend und so vorsichtig wie möglich seine Hände unter ihren Rücken und ihre Kniekehlen und hob sie hoch. Fieberhaft versuchte er gegen das Stimmengewirr und das Inferno in seiner Brust anzudenken, sich dagegenzustemmen.

       Wo sollte er sie hinbringen? Wo war sie sicher?

       Angestrengt dachte er darüber nach, wo sich das nächstgelegene Krankenhaus befand, verwarf den Gedanken aber recht schnell, da auch Merkas es im Zuge seiner Schnüffeleien kennen könnte. Er brauchte dringend ein Krankenhaus. Aber wo? Welches?

       Er kannte eine Stadt, eine Stelle, von der nicht weit entfernt ein Krankenhaus lag. Er würde die Strecke so schnell ihm möglich zu Fuß zurücklegen und sie dorthin bringen. Er war sich ziemlich sicher, dass Merkas von seinem einstigen Aufenthalt in dieser Stadt nichts gewusst hatte und auch heute nichts wusste. Ja, dort konnte er sie hinbringen.

       Er sammelte und konzentrierte sich, öffnete ein Portal und trat durch die flirrende Luft.

      Nikolaj drängte die Erinnerungen von sich und schüttelte sich leicht, ging jedoch schnell wieder zu einer ausdrucks- und regungslosen Erscheinung über.

      Als der Arzt einen Moment später neben ihm stand und ihn aufforderte, zusammen mit ihm das Zimmer zu verlassen, musste er sich zusammenreißen, ehe er aufstehen und ihm nachfolgen konnte.

      DREI

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      Merkas stand am Fenster, den Rücken zum Zimmer gewandt, als es klopfte. Sonor gab er ein „Herein“ von sich, drehte sich aber nicht um.

      Die Tür wurde aufgedrückt, Schritte glitten über den Boden.

      „Boss?“

      „Du bist hier, um mir zu sagen, dass ihr sie gefunden habt?“

      Es dauerte einen kurzen Moment. „Nein …“, kam es schließlich gedämpft als Antwort zurück.

      „Wen habt ihr nicht gefunden? Sie? Oder ihn?“

      Abermals ließ die Antwort auf sich warten.

      „Beide.“

      Stille wogte durch den Raum. Unbehagliche, bedrohliche Stille. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, drehte sich langsam um und ließ sich in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken.

      Der Mann vor ihm spannte sich an. Er beachtete ihn nicht weiter, ließ seine Hand über den Tisch gleiten, griff nach dem silbern glänzenden Brieföffner und spielte damit.

      „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir sie gefunden haben“, setzte sein Gegenüber erneut an.

      Er sagte nichts.

      „Sicher halten sich beide am gleichen Ort auf. Nikolaj wird nicht so einfach von seinem Spielzeug ablassen. Das macht es einfacher, sie zu finden.“ Die Stimme des Mannes wurde zunehmend nervöser.

      Immer noch keine Erwiderung von sich gebend, erhob er sich und schritt gemächlich, fast schlendernd um den Schreibtisch auf denjenigen zu, der das Mädchen an Céstine ausgehändigt hatte. Den silbernen Brieföffner hatte er nicht aus der Hand gelegt. Er balancierte ihn auf einem Finger, während er ging.

      „Soll ich mich wieder an die Arbeit machen?“ Die Frage enthielt einen unterschwellig flehentlichen Unterton.

      Dicht vor seinem Gegenüber blieb Merkas stehen. Musternd. Stumm. Bedrohlich. Ein paar Sekunden, dann schnellte er hervor, packte das Handgelenk des Mannes, zog die Hand auf die Tischplatte und stieß den Brieföffner mitten durch das Fleisch.

      Der