Wenn Licht die Nacht durchdringt. Sandra Andrea Huber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandra Andrea Huber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847678014
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was dieser Anblick zu bedeuten hatte. Warum Céstine tot war. Was zwischen ihr und Gwen passiert war. Konnte ein Kampf tatsächlich in dieser Form geendet haben? Mit Gwen als Siegerin und Céstine als Verliererin? Hatte Gwen Céstine getötet, um ihr eigenes Leben zu retten – sie töten müssen? Was war passiert?

      Nach einigen regungslosen und stummen Sekunden aller Anwesenden gab Merkas plötzlich einen Schrei von sich, der ein grollendes Knurren enthielt. Dann kam er auf ihn zugehastet. „DU …!“ Seine Stimme bebte vor Hass. „Du hast dieses Miststück hergebracht! Das Miststück hat sie umgebracht! Auf meinem Territorium! Eine von uns!“ Sein ganzer Körper bebte, er sah aus, als würde er jeden Moment Amok laufen und alles auseinandernehmen oder aufschlitzen, was sich in seiner Nähe befand. „Ich werde sie töten!“ Seine Nasenlöcher blähten sich. „Ich werde sie langsam und qualvoll zur Strecke bringen – und danach, wenn du mir dabei zugesehen hast, bist du an der Reihe! Wo hast du sie hingebracht?! Spuck es aus, so lange du noch reden kannst! WOHIN HAST DU SIE GEBRACHT?!“ Er griff ihm in den Nacken, zog ihn nach vorne und presste seinen Mund an sein Ohr: „WOHIN?!“ Es war kein Flüstern, keine Frage, sondern das Versprechen zweier Morde.

      Ruckartig zog Nikolaj den Kopf nach hinten, schnellte nach vorne und verpasste Merkas eine Kopfnuss. Die Arme wie Schwerter windend schlug er um sich, schleuderte die zwei Männer von sich, tat ein paar Schritte weg von dem Knäuel und sprang durch das flirrende Portal in die Menschenwelt.

      ZWEI

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      Es war dunkel. Überall um Gwen herum. Es gab keine Lichtquelle, keine Bewegung oder Regung, keine einzige andere Person. Endlos lange und ausufernde Schwärze um, über und unter ihr. Nur sie, das Wissen um sich selbst als existierendes Wesen und ihre Gedanken waren vorhanden.

      Doch irgendwann – vielleicht nach einer Ewigkeit, nach einem Leben oder zweien? – gab es plötzlich mehr als Dunkelheit, Schwärze, Gedanken und dem Gefühl für ihre Existenz. Sie konnte die Grenzen einer Form - eines Körpers? - spüren.

      Ja, sie besaß einen Körper. Es war noch immer dunkel, aber sie wusste nun ganz sicher, dass sie einen Körper besaß, dass sie mehr war, als nur Gedanken und fliegende Existenz. Das Mehr, dieser Körper, fühlte sich schwer und müde an, von den Zehenspitzen bis zum Haaransatz. Wobei sie jedoch nicht mit absoluter Gewissheit sagen konnte, wo diese beiden Punkte lagen oder wie weit sie voneinander entfernt waren. Aber sie spürte deutlich einen Anfang und ein Ende. Ein Brennen zog sich über einige Partien, welches sie an heißes, loderndes Feuer denken ließ. Gleich darauf schoss ihr das Bild eines blitzenden und scharfen Messers durch den Sinn und ließ Geschmack und Geruch von Kupfer in ihren Mund aufgehen.

      Allmählich konnte sie auch Geräusche wahrnehmen. Ein gedämpftes Surren und ein regelmäßig piepsendes Geräusch. Nach einigem Surren und Piepsen erkannte sie, dass das rhythmische Geräusch gleichzeitig mit ihrem Pulsschlag kam, ihren Herzschlag laut imitierte.

      Langsam kroch ihr ein spitzer Duft in die Nase. Ähnlich wie ein steriles Putzmittel, begleitet von einigen weiteren Nuancen, die merkwürdig aber zeitgleich sehr vertraut rochen. Sie kannte diesen Geruch und wenn sie ihn kannte, dann musste sie irgendwo sein, wo sie schon einmal gewesen war. Das wiederum hieß, dass sie sich in Sicherheit befand. Aber … wovor? Warum dachte sie an Sicherheit? An Sicherheit dachte man nur dann, wenn es etwas gab, vor dem man sich fürchtete, etwas, das Gefahr bedeutete.

      Fühlen, Hören, Riechen, Schmecken … fehlte nur noch das Sehen. Sie flackerte mit dem Lidern und versuchte sie nach oben zu schieben.

      Mit einem Mal kam die Welt – oder sie – zurück und ließ das Dunkel vergehen. Ehe sie die Augen wieder zugekniffen hatte, um das Licht langsam aufzunehmen, legte sich ein Schatten über ihr Gesicht. Sie sah nach oben und erkannte das Gesicht eines älteren Mannes, das über einem weißen Kittel hervorragte. Sie wollte sich bemerkbar machen, etwas sagen, sich bewegen, doch ehe sie etwas davon tun konnte, umfasste der Mann sanft ihre Schulter und hielt sie fest.

      „Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung. Sie sind in einem Krankenhaus. Sie waren verletzt, aber wir haben ihre Wunden versorgt. Möglicherweise sind sie noch leicht benommen, das hat auch mit den Medikamenten zu tun, aber das geht vorbei. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Er hielt kurz inne und lächelte sie warm an, während er mit einer kleinen Lampe in ihre Augen leuchtete und ihren Pupillenreflex testete. „Wissen Sie, wie Sie heißen? Sie trugen keine Papiere bei sich und der junge Mann, der Sie gefunden hat, konnte uns leider nicht sagen, wer Sie sind. Er glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben, aber wie Sie heißen, wo Sie wohnen oder arbeiten, wusste er nicht.“

      Während er den jungen Mann erwähnt hatte, war sein Blick kurz über seine Schulter in die hintere Ecke des Zimmers geflogen. Gwen ließ ihre Augen ebenfalls dorthin wandern und fühlte sogleich wie sich eine eisige Starre in ihrem Körper ausbreitete. Dort auf dem Stuhl saß Nikolaj. Die Arme vor der Brust verschränkt erwiderte er ihren Blick mit ausdrucksloser Miene und ohne jede Regung.

      Ihr Puls samt dem piepsenden Geräusch begann zu rasen, sodass der Arzt einen prüfenden Blick auf den Monitor warf. „Ist alles in Ordnung? Kennen Sie diesen Mann?“ Er warf abermals einen Blick Richtung Nikolaj, der den Blick des Arztes ebenso starr wie zuvor bei ihr erwiderte.

      „Vielleicht sehe ich aus wie jemand, den Sie kennt“, erwiderte er Achselzuckend und monoton.

      Wie jemand, den sie kennt. Was sollte das heißen? Was machte er hier? Hatte er sie hierhergebracht? Hatte sie es sich doch nicht nur eingebildet? Das blauschwarze Augenpaar über ihr?

      Wie jemand, den sie kennt. Was hatte das zu bedeuten?

      „Können Sie sich daran erinnern, was passiert ist?“, fragte der Arzt nun wieder an sie gewandt. „Wissen Sie, wie Sie heißen? Dann könnten wir Ihre Familie anrufen, Freunde, Ihren Freund oder Ehemann.“

      In Gwens Kopf lief alles drunter und drüber. Ob sie wusste, wie sie hieß? Ja. Ob sie wusste, warum sie hier war? Auch das wusste sie. Nicht in allen Einzelheiten, doch so präsent, dass es sie zu schütteln begann und ihren Herzschlag schneller trieb. Sie hatte nicht all das getan, was sie getan hatte, um nun am Ende doch noch ihre Mutter oder sonst jemanden der sie kannte in die Sache hineinzuziehen. Und „die Sache“ war noch nicht ausgestanden, das wusste sie mit Gewissheit. Sie war sich so sicher, dass ihr übel wurde. „Nein, ich … kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich weiß nicht, wer … wie ich heiße.“

      Der Arzt runzelte die Stirn. „Und diesen Mann kennen Sie wirklich nicht? Warum sind Sie so erschrocken, als Sie ihn gesehen haben? Kommt Ihnen irgendetwas an ihm bekannt vor?“ Seine Stimme klang nun ernst und enthielt die Spur von Wachsamkeit, die Väter oder Autoritätspersonen an den Tag legten, wenn sie eine Lüge oder Ausflucht vermuteten.

      „Nein, ich, kenne ihn wirklich nicht.“ Es war nicht mal eine richtige Lüge, wie sie sich eingestehen musste. Sie wusste nicht, wer er war. Nicht mehr. „Ich kann Ihnen nicht sagen, warum ich erschrocken bin. Vielleicht, weil ich bis dahin nicht gemerkt hatte, dass noch jemand außer Ihnen hier im Raum ist.“

      „Er hat Sie gefunden, nachts, auf einem Spielplatz. Sie hatten nur ein dünnes, kurzes“, er hielt kurz inne und verzog die Lippen, „Kleid an und waren mit Schnittwunden übersäht. Die Wunde an Ihrer Wange ist am tiefsten und wie es scheint, haben Sie auch eine Kopfverletzung. Obendrein waren Sie ziemlich unterkühlt als er hier mit Ihnen aufgetaucht ist.“ Der Arzt musterte sie, ihre Reaktion und ihre Augen.

      Gwen bemühte sich keinerlei Ausdruck in ihre Miene und Stimme zu legen. „Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, was passiert ist. Aber, wenn ich allein und verletzt war, dann ist es ein großes Glück, dass mich jemand gefunden hat. Dass … dieser Mann mich gefunden hat.“ Sie biss sich leicht auf die Zunge. „Damit hat er mir wohl das Leben gerettet.“ Das war womöglich die Wahrheit. Dennoch empfand sie nicht nur Dankbarkeit, sondern auch ein dumpfes Gefühl, das sie nicht einordnen konnte. Sie vermochte überhaupt nicht recht zu greifen, was sie empfand. Weder den vergangenen