Smartphone, Sorgen und Salbei. Karin Firlus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Firlus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746793252
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früherer Geschäftskollege ihres Vaters, der der Familie nahe stand, brachte sie in die Firma, in der er Abteilungsleiter war. Dass Irene gute Grundkenntnisse in Biologie hatte, war von Vorteil; so konnte sie einiges von dem chemischen Fachwissen verstehen, das in den Briefen stand, die sie schreiben musste. Auch ihre guten Französischkenntnisse halfen ihr jetzt. Ihr Chef war sehr erleichtert, dass sie fortan ohne Mühe die französischen Briefe schrieb, die er ihr diktieren konnte, ohne – wie bei ihrer Vorgängerin – ständig die Schreibweise erklären zu müssen.

      Zunächst arbeitete Irene nur halbtags, was ihr völlig reichte. Aber als Hannes dann gestorben war, musste sie aus finanziellen Gründen auf eine ganze Stelle aufstocken. Sie hatte zwar keine Karriere in dem Sinne gemacht, dass sie eine höhere Position, z.B. als Abteilungsleiterin, innegehabt hätte. Aber sie war die Sekretärin des Leiters der ausländischen Abteilung, musste am Telefon mit Franzosen und inzwischen auch manchmal mit Engländern sprechen und nach wie vor die französischen Briefe schreiben, die sie diktiert bekam. Ihre wechselnden Chefs hatten sie seit Jahren geschätzt und sich auf sie verlassen.

      Die Probleme fingen erst an, als der letzte schon mit sechzig in Rente ging und der neue Chef kam. Einer, der mit Anfang vierzig auch nicht gerade blutjung war. Aber er hatte diese Position wohl „mit Vitamin B“ gekriegt, wie einige in der Firma behaupteten, weil er mit dem pensionierten Seniorchef weitläufig verwandt war.

      Und er hatte es sich in den Kopf gesetzt, der Firma zu noch mehr Aufträgen und einer besseren Bilanz zu verhelfen. Allerdings hatte er dazu z.B. nicht die Chance genutzt, sich über Irene und einige andere Mitarbeiter erst mit der Firmenpolitik und vor allem mit den Mitarbeitern vertraut zu machen.

      Vom ersten Tag an hatte er ihnen unnachgiebig und unfreundlich klargemacht, dass er von ihnen jederzeit Höchstleistungen erwartete, aber Schwächen und „minderwertige Arbeit“, wie er es ausdrückte, ahnden würde. Schließlich gäbe es jede Menge Arbeitslose da draußen, die nur darauf warteten, ihre Jobs zu übernehmen.

      Wie allerdings diese minderwertige Arbeit aussah, definierte er nicht. Und somit fühlten sich alle ständig unter Druck, nur ja keinen Fehler zu begehen oder Überstunden abzulehnen.

      Er führte neue Methoden ein, unter anderem in der Akquise der Kunden, und verprellte mit seiner herrischen Art etliche Stammkunden, die sich daraufhin eine andere Firma für ihre Projekte suchten. Nach einer Weile gingen die Aufträge zurück, was der Neue allerdings nicht auf seine Fehler zurückführte, sondern auf die ungenügende Leistung seiner Mitarbeiter. Sie schienen für ihn nur ein Mittel zum Zweck zu sein, der da hieß, Gewinne zu steigern.

      Dies war wohl immer häufiger das neue Mantra vieler Chefs. Irene war zwar keine ausgebildete Personalmitarbeiterin, aber sie dachte bei sich, dass dieses Ziel nur mit motivierten Mitarbeitern, die man schätzte, zu erreichen war. Aber für den neuen Chef waren seine Leute keine Menschen, mit denen er auch einmal ein privates Wort wechselte. Er benahm sich unnahbar, nahm an keiner noch so kleinen Geburtstagsfeier teil. Er sprach nie ein Lob aus, hatte für niemanden ein freundliches Wort, übte nur Kritik und sprach Warnungen aus, was passieren würde, wenn die Situation sich nicht besserte.

      Dann, nach etwa einem Jahr, als er offenbar seine Vorgaben nicht erfüllt hatte, begannen plötzlich die Entlassungen. Dazu gingen einige jüngere Mitarbeiter freiwillig, da sie sich in dieser feindseligen Arbeitsatmosphäre nicht mehr wohlfühlten, wie sie sagten.

      Irene spürte die Freude an ihrer Arbeit nach und nach schwinden, bis sie sonntagsnachmittags bereits mit Grauen daran dachte, dass ab dem nächsten Tag wieder eine stressige Woche mit Problemen auf sie wartete. Aber nie im Leben hätte sie angenommen, dass die Kündigungswelle auch einmal sie erfassen würde. Dass sie mit fünfundfünfzig zu alt für ihre Arbeit sein sollte, kam ihr lächerlich vor, und dieses Argument wollte sie nicht akzeptieren.

      Außerdem brauchte sie ihre Arbeit dringend. Hinter ihr stand kein Mann oder Lebenspartner, der ihr finanziell hätte unter die Arme greifen können, wenn sie ihre Arbeit verlor. Ob ihr Chef wusste, dass sie auf ihr Gehalt angewiesen war? Wahrscheinlich nicht, und wenn doch, war es ihm egal. Diese kaltschnäuzige Haltung machte ihr Angst.

      War sie denn überhaupt noch etwas wert? Für ihren Chef wohl jedenfalls nicht. Ihre Mutter dümpelte in ihrer Welt des Vergessens, ihr war sowieso alles wurscht. Und Sabine? Mit ihr hatte sie nur oberflächlichen Kontakt. Ihre Tochter war ihr vor langer Zeit entglitten, damals, als Hannes so plötzlich gestorben war und Irene es in ihrer Trauer nicht schaffte, außer den anstehenden Aufgaben und der Arbeit im Büro auch noch Kraft für Sabine aufzubringen. Und sie hatten beide von Anfang an kein solch herzliches Verhältnis gehabt, wie das bei Sabine und Hannes der Fall gewesen war.

      Vater und Tochter waren ein Herz und eine Seele, und Irene war sich oft wie das fünfte Rad am Wagen vorgekommen. Als Hannes dann tot war, hatte Irene das Gefühl, als mache Sabine ihre Mutter für den Verlust des Vaters verantwortlich.

      Irene war seit langem schon auf sich allein gestellt und musste alle Entscheidungen und deren Konsequenzen auch allein tragen. Das war anstrengend und zermürbend.

      Sie lag im Bett und fror innerlich. Nach einer Weile drehte sie sich auf die Seite, zog die Decke bis zum Kinn hoch und versuchte in den Schlaf zu finden. Nach einer weiteren halben Stunde war sie immer noch wach und dachte darüber nach, was Carola gesagt hatte. Sie müsse sich äußerlich „aufpeppen“, hatte sie es genannt.

      „Warte mal ab, wenn du nicht aussiehst wie weit über fünfzig, wird dein Chef dich anders behandeln.“

      Irene hatte da so ihre Zweifel, aber es konnte vielleicht nicht schaden, sich eine andere Haarfarbe zuzulegen und damit gleichzeitig ihre grauen Strähnen vor den Blicken anderer zu verbergen.

      Sie war sehr überrascht gewesen, als ihre Bekannten alle freimütig zugegeben hatten, ihre Haare schon länger färben zu lassen bzw. wenigstens Strähnchen in rot oder blond zu tragen.

      „Heutzutage bist du doch schon abgeschrieben, wenn du nicht mehr topfit und blutjung aussiehst“, hatte Beate gejammert.

      „Und mindestens Größe 36 trägst, wenn nicht gar 34 oder kleiner!“, hatte Monika hinzugefügt, die von den vieren die Pummeligste war.

      Also nahm Irene sich vor, in der kommenden Woche einen Termin bei ihrer Friseurin zu vereinbaren.

      *

      Allerdings war sie montagsmorgens müde, weil sie zu wenig geschlafen hatte und deshalb schlecht gelaunt. Ihr Arbeitstag begann genauso hektisch, wie der Freitag aufgehört hatte: Ihr Chef überhäufte sie mit so viel Arbeit, dass sie während der folgenden drei Tage nicht zum Ausschnaufen kam.

      Als sie mittwochs um halb sieben ins Heim hetzte, direkt von der Arbeit, war ihre Mutter schon längst fertig mit ihrem Abendessen und Meike wusch sie bereits.

      „Muss sie denn so früh schon ins Bett?“, erkundigte Irene sich erstaunt.

      „Mit irgendwem muss ich ja anfangen, sonst werde ich nicht fertig“, bekam sie zur Antwort. „Außerdem hat sie vor über einer Stunde ihre Schlaftabletten bekommen, die wirken schon bald.“ Sie wusch den Lappen aus und hielt ihn Irene hin. „Sie können gerne weitermachen, wenn Sie wollen. Es fehlen nur noch Gesicht und Zähne.“

      Irene übernahm die Abendtoilette, während der ihre Mutter irgendetwas vor sich hin brabbelte.

      „Mama, mach mal den Mund auf, damit ich dir die Zähne putzen kann.“

      Die alte Frau presste stur die blutleeren Lippen aufeinander.

      „Aahh!“, sperrte Irene ihren Mund auf, und siehe da, es wirkte. Wie ein kleines Kind imitierte ihre Mutter sie, und Irene wunderte sich einmal wieder, dass die Zweiundachtzigjährige noch all ihre Zähne hatte.

      Sie blieb eine halbe Stunde vor dem Bett sitzen, bis ihre Mutter eingeschlafen war, und nahm sich vor, in Zukunft eine Zeitung oder ein Buch mitzubringen, um ihr daraus vorzulesen. Was kleine Kinder beruhigte, wirkte bestimmt bei Alten ebenso.

      Als sie zu Hause ihren Briefkasten leerte, lag ein handgeschriebener Zettel darin. „Du hast nicht geöffnet, als ich