Parallels. Sven Hauth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sven Hauth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750237810
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Reste dieses Traumes, die Shane nach langer Zeit wieder aufstehen ließen.

      Die ersten unsicheren Schritte führten ihn in das Wohnzimmer. Benommen sah er sich um, ein Fremder in seinem eigenen Apartment.

      Auf der Fensterbank raschelte eine traurige Reihe Topfpflanzen. Fast ausnahmslos waren sie vertrocknet, ein einzelner Kaktus das einzige überlebende Exemplar in diesem Garten der Vernachlässigung.

      Gegenüber dem Fenster stand auf dem Boden ein veraltetes Fernsehgerät. Jemand – er selbst? – musste vergessen haben, es auszuschalten.

      Wie lange hatte er geschlafen? Nach und nach kehrten Erinnerungen zurück, doch es waren wenig mehr als zusammenhanglose Bruchstücke. Die Vergangenheit war ein scheues Tier, das sich der direkten Beobachtung entzog. Es blieb ein blinder Fleck, etwas, das sich in Regionen seines Unterbewusstseins verborgen hielt, auf die er keinen Zugriff hatte.

      Auf dem Bildschirm erschien die Nahaufnahme eines Mannes in schwarzer Robe, der hinter einem Pult auf einem hochlehnigen Lederstuhl saß. Es folgte ein Schnitt auf eine Gruppe von circa zehn weniger wichtig aussehenden Menschen. Einer von ihnen stand auf und las etwas von einem Blatt Papier. Eine Gerichtsverhandlung. Die fehlende Farbe der Bilder ließ sie wie aus einer anderen Zeit wirken.

      Shane riss seinen Blick von den flackernden Aufnahmen los. Momentan war es besser, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Über dem Fernseher war ein mager bestücktes Bücherregal angebracht. Auch hier fand er nur halbe Erinnerungen. Die Namen der Autoren – Thompson, King, Baum, Fowles, Carroll – waren ihm entfernt vertraut. Mehr nicht.

      Er betrat die Küche. Erblickte den gefüllten Wasserkessel. Daneben die gefaltete Filtertüte. Und wusste, was zu tun war.

      Alles war bereits vorbereitet worden, an einem anderen Tag. Einladend stand der glänzende Kessel vor ihm. Er musste nur noch die Herdplatte anstellen.

      Die Idee kam ihm, während er auf das Sprudeln des Wassers wartete. Eben noch roh und abstrakt, wie die meisten guten Ideen ihren Anfang nehmen, formte sie sich nun zu konkreter Gestalt. Die Vergangenheit mochte ein unscharfer Ort sein, doch die Zukunft lag in beruhigender Deutlichkeit vor ihm.

      Das schrille Pfeifen des Kessels unterbrach den Gedankengang. Shane goss kochendes Wasser in den Filter und sah zu, wie es von dort als dampfender brauner Saft in den Becher tropfte. Vorsichtig pustend trieb er eine Gruppe kleiner Luftblasen an den Rand. Die Idee verwandelte sich soeben zu einem festen Entschluss.

      Er würde eine Reise unternehmen. Einen langen Trip, der ihn an den Ozean aus seinem Traum führen würde. An einen weit entfernten Ort, der sich weniger fremd anfühlte. Momentan konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, was er hoffte, dort zu finden. Oder ob er überhaupt etwas finden würde. Es war, als ob er einem starken Instinkt folgte, dem befriedigenden Gefühl, das Richtige zu tun. Und das war gut genug.

      Die letzte Luftblase zerplatzte in winzige Spritzer und hinterließ eine ebenmäßig schwarze Oberfläche. Kurz bevor Shane den ersten Schluck nahm, sah er im dunklen Spiegel die eigenartig verzerrten Konturen seines Gesichts. Die Flüssigkeit berührte seine Zungenspitze. Es schmeckte viel zu bitter. Kurz zögerte er, bereute fast. Dann war der Becher geleert und der unangenehme Geschmack etwas Neuem gewichen.

      Die Reise hatte bereits begonnen.

      – 2 –

      Ich starrte auf einen visuellen Alptraum.

      Ein Kaleidoskop aus Papier. Bunte Zettel, knittrige Blätter, lieblos aus Heften ausgerissene Seiten und schlecht haftende Post–it–Notes, welche die ursprüngliche Korktextur nur noch fleckenhaft erkennen ließen. Bis auf wenige Ausnahmen waren sie achtlos aufgespießt, drängelten dicht an dicht in schlampigen Winkeln, schnitten und überlappten sich ohne irgendeine erkennbare Logik. Aus Platzmangel waren einige auf den Holzrand der Tafel ausgewichen oder dreist über ältere Anzeigen gepinnt.

      Jedes Blatt bemühte sich auf eigene Art, seine Nachbarn im harten Wettbewerb um die Aufmerksamkeit des Betrachters zu übertrumpfen. Die meisten von ihnen versuchten es über die Farbe. Vom grellen Pink über Zitronengelb bis Mintgrün waren sämtliche Scheußlichkeiten vertreten, nur hin und wieder kontrastiert von politisch korrektem Umweltpapier im faserigen Recyclinggrau. Dieses glich seine schlichte Erscheinung dafür mit extragroßer Typografie oder ungewöhnlichen Formen aus, wie das zu einer Herzform geschnittene Papier, das für eine „liebevolle Hundebetreuung“ warb.

      So unterschiedlich sich die Blätter selbst präsentierten, so waren es auch die Spielarten ihrer Befestigung. Erwartungsgemäß dominierten Heftzwecken und Reißnägel, deren Köpfe sich auf der limitierten Fläche ebenfalls in jedem denkbaren und undenkbaren Farbton versammelt hatten. Dicht gefolgt wurden sie von der Gruppe der Klebestreifen, die auf dem grobkörnigen Untergrund zwar weniger Halt boten, dies aber entweder durch paarweises Auftreten an der Ober– und Unterkante, oder gleich – sicher ist sicher – vierfach diagonal auf alle Ecken des Papiers verteilt wettmachten. Um das Chaos zu komplettieren, waren die meisten Blätter am unteren Rand durch Einschnitte verstümmelt worden, abreißbare Streifen mit Telefonnummern, die sich dem Betrachter entgegenbogen wie ungekämmte Papierbärte. Im Allgemeinen schien hier die Regel zu gelten: Je ungehemmter das Auftreten des Papiers, desto fragwürdiger sein Inhalt.

      Ein besonders penetrantes, signalrotes Quadrat fragte in silbrig glänzender Schrift, ob man nicht mit Samenspenden reich werden wollte. Flankiert wurde es von marktschreierischen Vorschlägen wie „3000 $ in Ihrer Freizeit verdienen!!“ und ähnlichen Botschaften, von denen einige in der großen Menge der unablässig vorbeilaufenden Studenten mit Sicherheit willige Opfer finden würden.

      Schwindlig von dem Anblick schloss ich die Augen. Dies würde keine leichte Aufgabe werden. Auf fatale Weise fühlte ich mich an meinen letzten Arbeitsplatz erinnert.

      Es war gerade einen Monat her gewesen, dass ich mich das erste Mal auf die Suche nach einer monotonen Tätigkeit gemacht hatte. In den wirtschaftlich miserablen Zeiten, die gerade herrschten, war ein abgebrochenes Studium nicht gerade die beste Voraussetzung, einen Job zu finden. Geschweige denn eine Arbeit, die meinen speziellen Bedürfnissen genügte.

      Ohne große Erwartungen verbrachte ich die Adventszeit damit, die Stellenmärkte der Tageszeitungen zu durchforsten. Doch das Glück war auf meiner Seite. Schon nach wenigen Tagen stieß ich auf eine Anzeige, die mein Interesse weckte. Gesucht wurden Hilfskräfte für die Nachtschicht in einem bekannten Fotolabor. Mit Nachtarbeit hatte ich keine Probleme, da ich ohnehin schlecht schlief. Die Bezahlung schien angemessen, und die Arbeit in einem Fotolabor stellte ich mir angenehm eintönig vor. Ich vereinbarte einen Vorstellungstermin. Nach einem fünfminütigen Bewerbungsgespräch war ich eingestellt.

      Ausgestattet mit einem kreditkartenähnlichen Zugangsausweis, den man bei Arbeitsanfang und –ende durch die moderne Version einer Stechuhr ziehen musste (langjährige Mitarbeiter erkannte man daran, dass sie dies auf betont beiläufige Art im Vorbeigehen erledigten), betrat ich in meiner ersten Arbeitsnacht das turnhallengroße Gebäude.

      Begrüßt wurde ich von brennendem Chemikaliengestank, ohrenbetäubendem Lärm und einer schlaksigen Gestalt mit ausgedünntem Blondhaar, die bei meinem Anblick eilig herbeistakste und sich als Schichtleiter vorstellte. Seiner Hautfarbe nach hatte er schon seit Jahren kein Tageslicht mehr gesehen. Er schien sichtlich erfreut, mit mir Verstärkung bekommen zu haben. Ich folgte ihm auf einer Einführungsrunde durch das Labyrinth des Labors.

      Die Halle war gefüllt mit einer unüberschaubaren Vielfalt von Maschinen, alle verbunden durch ein sich endlos durch den Raum windendes Band aus ungeschnittenem Fotopapier. Die meisten von ihnen schienen vollständig autonom zu arbeiten. An anderen saßen weiß behandschuhte Arbeiter und führten irgendwelche undefinierbaren Prozeduren an der Fotoschlange durch.

      Wir begegneten anderen Menschen. Ähnlich meinem Anführer hatten zu viele Nachtschichten ihnen die Farbe aus den Gesichtern getrieben. Mit der Gleichmut lebender Toter erledigten sie ihre Arbeit – schoben mit Fototüten gefüllte Wagen, schraubten an einer der erwähnten Maschinen oder schlurften ohne erkennbare Aufgabe durch die Hallen. Und das – nach ihrer Ähnlichkeit