Welt als Körper. Thomas Erthel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Erthel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772001031
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Muschel, welche die „Welt“ verschlingt, womit diese nicht länger aus unzähligen Muscheln oder „substantiell“ (s.o.) aus Muschelgestein besteht. Stattdessen wird die „Welt“ ausgelöscht, und was bleibt ist die EinsheitEinsheit (Unicity) der einen Muschel. Die unterschiedlichen FdG, die im zitierten Passus – und im übrigen Text – ihren Auftritt haben, werden von der einen Muschel verdrängt, die an ihre Stelle tritt. Hier lässt sich also eine weitere Nuance in die bereits besprochene Unterscheidung zwischen EinheitEinheit und Einsheit eintragen (vgl. II.1.4). Einheit setzt strukturell stets Vielheit voraus, welche als Einheit wahrgenommen/dargestellt wird; Einheit verdrängt Vielheit nicht notwendig. Süskinds Text hingegen inszeniert die Beseitigung von Vielheit zugunsten eines einzelnen Gegenstandes, der Muschel, der an die Stelle der Vielheit tritt, und dessen Eins-Sein stiftet.

      Der Prozess der Vermuschelung stellt, so die Deutung, die hier an den Text herangetragen werden soll, die Kompression der GanzheitGanzheit als radikale Vereinsheitlichung dar. Die von Mussard gegebene Beschreibung der hauchdünn von Erdboden überzogenen Ganzheit der Erde, die im Kern schon Muschel ist, wird so als wahnhafte Momentaufnahme des Fortschreitens der Kompression lesbar, einer paranoiden oneworldedness (vgl. II.2.2), die die Ganzheit auf eine Muschel reduziert. Unter dieser Perspektive entwickelt der Text einen als materiell inszenierten globalen Zusammenhang, der in scharfem Kontrast steht zu den üblicherweise dezidiert nicht-stofflichen Metaphern und Bildern, die zur Illustration von Fernwirkungszusammenhängen herangezogen werden. So spricht man in der Globalisierungstheorie eher davon, dass alle Ereignisse auf der Erde globale Echos2 nach sich ziehen; Peter Sloterdijk spricht (allerdings für das 20. Jahrhundert) noch abstrakter von „Transaktionen“ die noch aus weiter „Ferne“ die „Gegenspieler in Mitleidenschaft“ (Sphären II 824) ziehen. Im Kontrast zu diesen Beschreibungen also erweist sich die Kompression in Süskinds Text als ein Prozess, der EinsheitEinsheit (Unicity) (in der extremsten Form) als substantiell verstandene Identität aller Stoffe inszeniert.

      Mit einiger Verzweiflung wirft der Erzähler schließlich die Frage auf: Was bleibt? – und stößt den Leser damit auf die an die Körperthematik stets untrennbar gebundene Frage nach der SeeleSeele (im Verhältnis zum Körper):

      Wie sollte ich dich trösten? Soll ich von der Unzerstörbarkeit deiner SeeleSeele (im Verhältnis zum Körper), von der Gnade des barmherzigen Gottes, von der Auferstehung des Leibes faseln wie die Philosophen und Propheten? […] Wozu lügen? (69)

      Die Frage nach der SeeleSeele (im Verhältnis zum Körper) wird auch am Ende des Textes, welches als „Nachschrift Claude Manets, des Dieners des Herrn Mussard“ (70) Gestalt annimmt, aufgegriffen. Nach der Beschreibung des Umstandes, dass man dem Herrn Mussard einen „rechtwinklingen Sarg zimmern“ lassen musste, da „mein Herr auch nach Ablauf der üblichen Todesstarre seine versteifte Haltung nicht aufgeben wollte“, schreibt Manet: „Gott sei seiner Seele gnädig!“ (70) und ‚faselt‘ damit von eben jener Seele, von der Mussard – angesichts der Vermuschelung der Welt – keine Lügen erzählen wollte. Die Seele – mit wenigen Ausnahmen in den meisten Vorstellungen vom Körper als nicht-stofflich verstanden –3 wird also von Süskinds Text verabschiedet, da sie nicht in die materiell gedachte ‚Vermuschelung‘ passt. So fällt der Einebnung von Unterschieden – wie die Behauptung der ‚substantiellen‘ Identität sämtlicher Stoffe sie mit sich bringt – zuletzt auch die Seele zum Opfer, die als Nicht-Substantielles in der substantiellen EinsheitEinsheit (Unicity) der ‚Muschel-Welt‘ keinen Platz hat.

      2 Jonathan Swifts Gulliver’s Travels

      2.1 Prolog: Ideenimport aus den Kolonien (A Modest Proposal)

      Swifts politisches Pamphlet1A Modest Proposal (1729) schlägt vor, die Kinder irischer Bettlerinnen nach dem ersten Lebensjahr an die englische Oberschicht zu verkaufen, von der diese als Delikatesse verspeist werden sollen; somit soll die zu dieser Zeit in IrlandIrland (im kolonialen Kontext) grassierende Armut gelindert werden.2 Das Proposal legt also eine kannibalische Praktik zur Lösung der irischen Krise nahe.3 Dies ist, auf den ersten Blick, ein satirischer Kommentar auf die bilaterale Konstellation zwischen ungleichen Staaten: Irland kommt hierbei der Sonderstatus der first colony zu und leidet gesellschaftlich massiv unter dem hegemonialen Einfluss Englands, welches Irland faktisch der Selbstbestimmung beraubt hatte.4 Die Situation stellt sich als koloniales Ausbeutungsverhältnis unmittelbarster Art dar, das in der an ein Oxymoron grenzenden Begrifflichkeit des dependent kingdom, unter dem Irland zu dieser Zeit auch adressiert wird, kaum verborgen zutage tritt.5 Dementsprechend ist folgende, im Proposal vorgebrachte Begründung des drastischen ‚Lösungsvorschlags‘ nur folgerichtig:

      I GRANT this Food will be somewhat dear, and therefore very proper for Landlords; who, as they have already devoured most of the Parents, seem to have the best Title to the Children. (233)

      Die althergebrachte Ausbeutung der Iren rechtfertigt somit satirisch die Ausbeutung auch noch der jüngsten Generation, wobei das körperliche Verschlingen („devoured“) die Gewalt Englands markiert.6

      Dieser Vorschlag ist in seinem Inhalt jedoch keineswegs so radikal, wie es ohne eine historische Kontextualisierung den Anschein haben mag. Denn drei zeitgenössische Praktiken in IrlandIrland (im kolonialen Kontext) und England politisieren Körper ebenfalls in massiver Form. So ist in diesem Zusammenhang erstens auf die Praktik des corpse-stealing hinzuweisen, also das Stehlen und Verkaufen von Leichen (betroffen sind von dieser Praxis vor allem Angehörige der Unterschicht).7 Zweitens stellt die Praktik der öffentlichen – und das heißt immer auch: strafenden – Obduktion von ‚Kriminellen‘ eine massive Politisierung von Körpern dar,8 die in diesem Zeitraum eine große gesellschaftliche Rolle spielt.9 Drittens muss auf eine irische Beerdigungspraktik verwiesen werden, die sich zu dieser Zeit zu etablieren beginnt, in welcher der Tod prominenter Personen zum Anlass genommen wird, einen Schal aus irischem Stoff zum patriotischen dress-code zu erklären; durch den vermehrten Verkauf von irischem Leinen soll so die heimische Wirtschaft angekurbelt werden.10 Semantisch hochgradig aufgeladene Körper sind somit im politischen Gefüge Irlands Anfang des 18. Jahrhunderts sehr präsent, und zwar als Waren, als Gegenstände der Demonstration von Macht, sowie als patriotische Symbole.11 Von derart ‚aufgeladenen‘ Körpern toter Iren einerseits, und der grassierenden Angst vor Grabräubern und Obduktionen andererseits, ist der Weg zum Vorschlag in Swifts Pamphlet nicht mehr weit, der insofern nur einem heutigen Publikum als haltlose Übertreibung erscheinen muss – ganz davon abgesehen, dass das Verspeisen von Menschen als Metapher in (finanz-)ökonomischen Zusammenhängen zu dieser Zeit en vogue ist. Das Proposal denkt diesen Umgang mit menschlichen Körpern lediglich satirisch einen Schritt weiter, indem es vorschlägt, sogar Kinder dem Verkauf und Verzehr preiszugeben.

      Das Proposal ist weiter Teil des Genres des politischen Pamphlets zur Lösung der Krisensituation in IrlandIrland (im kolonialen Kontext), welches Anfang des 18. Jahrhundert18. Jahrhundert (Welt-System)s hochpopulär ist und die verzweifelte wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation anprangert. Gleichzeitig verdienen die Autoren dieses Genres an genau den Missständen, die sie kritisieren, ihr Geld. Das Genre ist damit ebenso politisch wie lukrativ.12 Der Bezug des Proposal auf dieses Genre ist der einer intertextuell verfahrende Parodie, die auf den Aspekt der Lukrativität des irischen Leidens abzielt. Gleichzeitig attackiert es dieselben gesellschaftlichen Umstände, auf die sich das ganze Genre bezieht (und wird auf dem gleichen Markt zum Bestseller, auf dem die parodierten Pamphlete verkauft werden):13 „The text may set Swift up as an outsider offering a horrified commentary on an insanely acquisitive culture, but as a saleable product the Proposal cannot help but participate in the cult of commodity fetishism it satirises.“ (Ward, „Bodies“ 283)

      Im Rahmen der hiesigen Studie ist nun darauf aufmerksam zu machen, dass das Proposal die beschriebene lokale Situation in Dublin, auf die der Text (vor allem an seinem Beginn) fokussiert, aus dem bilateralen Kontext (IrlandIrland (im kolonialen Kontext)/England) heraushebt. Denn im Proposal findet ein Ideenimport interkontinentaler Art statt: Die den Text strukturierende und vorantreibende Idee, die Kinder der irischen Unterschicht an die englische Oberschicht zu ‚verfüttern‘,