Welt als Körper. Thomas Erthel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Erthel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772001031
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weitere Orientierungsarbeit zu ersparen, ein kannibalisches Barbecue statt). Doch gibt es auch Darstellungen, die alle – nach jeweiligem Stand der KartografieKartografie bekannten – Erdteile, zuvorderst Europa und Amerika, als „Frauengestalten“ (Manow 57) darstellen; diese Bildtradition findet auch im Titelkupfer des De Cive von Thomas Hobbes Eingang (vgl. Manow 55–57). Dieses Ins-Verhältnis-Setzen von Körpern und größeren Ganzheiten – und das koloniale Begehren, das ihnen eingeschrieben ist – kann jedoch auch ganz andere Formen annehmen: „The form of the globe finds anthropomorphic expression in the human eye or the female breast […], generating a poetics of form that connects the microcosm of a gendered human body to the macrocosm of the planetary globe.“ (Cosgrove 7f.) Auf noch konkretere Verbindungen zwischen Hobbes LeviathanLeviathan (Text und Titelkupfer) und der Kolonialgeschichte, auf die Philip Manow hingewiesen hat, wird unter III.2.4.1 eingegangen.

      Die anthropomorphen Körper erscheinen in diesen – staatspolitischen, kolonialen, und kartografischen – Kontexten zumeist als stark vergrößert. Diese Tendenz wird im Spezialfall der von Horst Bredekamp beschriebenen Bildtradition der „KosmosleiberKosmosleiber“ (Hobbes 73) derart ins Extrem getrieben, dass der Körper mit Extensionen in ein Verhältnis gesetzt wird, die deutlich über den Bezugsrahmen des Terrestrischen hinausgehen – und den Körper sogar größer als die Erde erscheinen lassen, oder gar mit kosmischen Konstellationen (Sternzeichen, Himmelssphären etc.) in Näheverhältnisse rücken (vgl. Bredekamp, Hobbes 73–75). Probates Mittel zur Vergrößerung des menschlichen Körpers ist häufig dessen Darstellung als sogenannter „Kompositkörper“ (Bredekamp, Hobbes 76), der sich „[n]eben der Größe“ dadurch auszeichnet, dass er aus einer „schier unübersehbar große[n] Menge von Personen“ (ebd.) – oder Körpergliedern – zusammengesetzt ist.

      Das allgemeine Darstellungspotenzial des Körpers konnte hier nur umrissen und so ein Fundament für die folgenden Analysen geschaffen werden, die dieses Potenzial in literarischen Texten weiter untersuchen und aus neuer Perspektive – in Relation zu FdG – beleuchten.

      III Lektüren

      Aus den bis hierher beschriebenen Beobachtungen erklärt sich der Fokus der folgenden Lektüren, der auf Texten des 18. und 19. Jahrhundert19. Jahrhundert (Welt-System)s liegt, die damit in der unmittelbaren Vor-Phase des Global-Werdens des Welt-SystemWelt-Systems angesiedelt sind (auch wenn ihnen selbst diese Terminologie natürlich fremd ist). Der Grund für den zeitlichen Fokus ist also, dass sich die bis zu diesem Punkt untersuchten und genannten Texte und Theorien einig sind, dass die ‚Weltwerdung von Erde‘ zwar deutlich früher beginnt, im 19. Jahrhundert jedoch global geworden ist; das ‚Welt-System‘, um in Wallersteins Vokabular zu sprechen, ist erdumfassend geworden. Hierbei ist dezidiert auch auf Robertsons Überlegungen zu verweisen, der im 18. und 19. Jahrhundert einen zentralen Prozess beobachtet, der unter anderem in der Integration nicht-europäischer Staaten in die ‚internationale Gemeinschaft/Gesellschaft‘ besteht (vgl. dessen Ausführungen zu JapanJapan (‚Öffnung‘) 85–96; vgl. genauer III.4.4). Weiter erklärt sich der Bezug auf Wallersteins Ansatz aus dessen Analysen der FdG ‚Welt‘, deren Ergebnisse oben dargestellt wurden.

      Die folgenden drei Lektürekapitel, und die Textauswahl, die ihnen zugrunde liegt, lassen sich kontextuell und sprachlich den „three great empires – British, French, American –“ (Said, Orientalism 15) zuordnen. Denn die drei analysierten Haupttexte – Gulliver’s Travels, Candide und Moby-Dick – sind in den dominanten Sprachen (Englisch, Französisch, Englisch) dieser Imperien verfasst und in den entsprechenden Kontexten entstanden.1 Die Texte werden, um die bis hierher beschriebene Prozessualität der ExpansionExpansion nachvollziehen zu können, in der Chronologie ihres Erscheinens (1726, 1759, 1851) analysiert.

      An dieser Stelle ist das Genre der untersuchten Texte zu adressieren – denn es ist auffällig, dass im Folgenden zwei Satiren und ein RomanRoman untersucht werden. Das erklärt sich vor allem aus der Thematik des Blickpunktes, die immer wieder aufgegriffen werden wird. Wie Werner von Koppenfels gezeigt hat, ist die SatireSatire2 grundsätzlich der AußenperspektiveAußenperspektive (auchextrinsische Perspektive) verschrieben, denn da sie „auf die pointierte Verkleinerung menschlicher Scheingröße abzielt, muß sie […] statt der vertrauten Nähe der Dinge ironische Distanz schaffen“ (31). Diese Distanz wird dabei häufig als „Blick aus der Höhe“ (ebd.) inszeniert – die doppelte Distanz aufrufend, die weiter oben bereits angesprochen wurde, als räumliche einerseits, und als Enthebung aus dem Alltag andererseits (vgl. II.2.1). Die Schrumpfung, welche Satiren ihrem Genre gemäß häufig inszenieren, ist im Rahmen dieser Arbeit neu zu deuten – mit Hinblick auf den beschriebenen Rahmen der ExpansionExpansion des Welt-SystemWelt-Systems.

      Der RomanRoman steht ebenfalls in einem komplexen Verhältnis zum ‚Ganzen‘, insofern in ihm die Frage, inwiefern er selbst ein Ganzes – eine ‚Welt‘, mit allen Einschränkungen, die in Abschnitt II.1.3 erarbeitetet wurden – darstellt (vgl. hierzu auch III.4.1 und III.4.2.2). Darüber hinaus jedoch zeichnet sich Moby-Dick im Speziellen dadurch aus, dass dort ebenfalls eine AußenperspektiveAußenperspektive (auchextrinsische Perspektive) auf das Ganze explizit diskutiert wird.

      ‚Globale Realitäten‘ sind ein dem Alltag der individuellen Perspektive Entrücktes, so Jameson (s.o.), ein „absent cause“ (Jameson, „Mapping“ 350) jenseits der Wahrnehmung und SichtbarkeitSichtbarkeit (von Ganzheit). Die Annahme Jamesons dabei, dass „this absent cause can find figures through which to express itself in distorted and symbolic ways“, wird von dieser Arbeit mit allem Nachdruck vertreten – und verbunden mit der These, dass in den Texten, auf die das Projekt fokussiert, der Körper diese Funktion übernimmt, indem er – im Wechselspiel mit FdG – größere globale Einheiten und Prozesse darstellt und so sichtbar werden lässt.

      1 Präliminarien: „Die Welt, sage ich, ist eine Muschel“

      Ich sage dir nun, was du nie mehr vergessen wirst, weil du es im Innersten schon immer wußtest, ebenso wie ich es wußte, ehe es mir offenbar wurde. Wir haben uns nur dagegen gesträubt: Die Welt, sage ich, ist eine Muschel, die sich erbarmungslos schließt. Du sträubst dich? Du wehrst dich gegen die Einsicht? Es ist kein Wunder. Der Schritt war zu groß. Du kannst ihn nicht auf einmal tun. Der alte Nebel liegt zu dicht, als daß ein großes Licht genügte, ihn zu vertreiben. Wir müssen hundert kleine entzünden. (Süskind 45f.)

      Der Ich-Erzähler namens Mussard in Patrick Süskinds Das Vermächtnis des Maître Mussard (1995) eröffnet im zitierten Passus dem unmittelbar angesprochenen Leser, dass „die Welt“ eine Muschel sei (eine einzige Muschel wohlgemerkt, doch dazu im weiteren Verlauf mehr). Damit schöpft er eine überraschende Gleichsetzung. Gleichzeitig postuliert er einen Widerstand gegen diese Behauptung seitens des im Text mit hoher Frequenz direkt angesprochenen Lesers. Der Leser wird so textintern inszeniert als ein von der Identität von Welt und Muschel zu überzeugendes Gegenüber, das Vielheit sieht, wo der Erzähler eine Identität von Welt und Muschel postuliert. Die FdG ‚Welt‘ wird so aus dem automatisierten Verständnis gerissen, und durch die In-Eins-Setzung mit einem denkbar unwahrscheinlichen, weil kleinen, Tier in eine Relation gesetzt, die jedwede intuitive Bedeutung von ‚Welt‘ unterläuft. Das Eins-Sein von ‚Welt‘ und Muschel muss entsprechend erst noch hergeleitet werden – und dieses Unternehmen steht im restlichen Verlauf des Maître Mussard im Mittelpunkt. Implizit formuliert der Text damit eine viel grundlegendere Frage: Was ist ‚die Welt‘?

      Ausgehend von einem Fund beim Graben im heimischen Garten, bei dem nur knapp unter einer dünnen Schicht Erde Gestein voller versteinerter Muscheln zutage tritt, entwickelt der Protagonist die globale These, dass die gesamte Erde nur von einer dünnen Schicht Erdbodens überzogen ist, unter der sich überall Muschelgestein findet. Von diesem Ist-Zustand ausgehend, der durch (mehr und weniger überzeugende) Beweise, die der Protagonist im Lauf des Textes anhäuft, untermauert wird, entwickelt der Erzähler weiter die These, dass die gesamte ‚Welt‘ in einem Prozess der „Vermuschelung“ (54) begriffen ist. Dieser wird, so seine Prognose, im Erstarren der Erde zu einer Wüste aus Muschelgestein enden.

      Doch nicht nur findet sich überall Muschelgestein, es erweist sich