Welt als Körper. Thomas Erthel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Erthel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772001031
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Problem immerhin sehr akkurat benennt, eine eindeutig bessere Konzeption vorzuweisen hat.1 So führt er aus: „Aesthetic worldedness is the form of the relation a work establishes between the world inside and the world outside the work. The history of aesthetic worldedness is thus always, simultaneously, a history of the idea of the world as such“ (45). In Abgrenzung zu Moser und Simonis lässt sich – mit Bezug auf Hayot – festhalten, dass sich die Frage nach dem Verhältnis von Literatur zu der Welt nicht auf dessen ‚Entwerfen von fiktiven Welten‘ (s.o.) reduzieren lässt, zumindest nicht ohne den Zusammenhang zwischen der Welt einerseits und fiktiven Welten andererseits genauer darzulegen.2 Die intuitive Einschätzung, das Verhältnis gestalte sich in Form einer Synekdoche – die ‚Welt‘ eines Romans also sei eine ‚Welt im KleinenWelt im Kleinen (Synekdoche)‘ – ist also mit einiger Vorsicht zu genießen, denn sie fußt auf einer Tautologie, und übergeht mehr Fragen als sie beantwortet. Steven Hutchinsons Ausführungen zum Verhältnis zwischen ‚Welt‘ und Literatur zeigen, wie schwierig es ist, ‚Welt‘ im Sinne eines überschaubaren, kleineren Ganzen klar zu definieren:

      In its most elementary use, “world” evokes an identifiably complex, autonomous community or society of beings with its own culture and economy, its own patterns of behavior and interaction and modus vivendi, spread out in a more or less extensive spatial domain. To conceive of the world or a world necessarily involves thinking in terms of territory, time, nature, life, and sociocultural order and infusing these with specific characteristics and principles. The notion of “world,” then, comprehends any isolable environment in which culture, society, economy, politics, and history–or a plurality of these–are thought to be enacted. This notion need not imply human inhabitants since there maybe worlds of gods, or dogs for that matter, or of any other real or imaginary species, as long as these are anthropomorphized to the extent that they are capable of at least the rudiments of culture. Nor need it imply any ontological grounding: a world lacking such grounding is a utopia. Since no text is cast in a total void, it could be argued that any text whatsoever somehow conveys some sense of “world,” however fragmentary or diffuse this might be, insofar as it reveals perspective and value while opening up and characterizing an illusory ambient space. (Hutchinson 174f.)

      Die äußerst weite Definition von ‚Welt‘ als „any isolable environment in which culture, society, economy, politics, and history–or a plurality of these–are thought to be enacted“ illustriert, wie schwer das Verhältnis zwischen der Welt und den Welten in Texten zu bestimmen ist. Und auch die Formulierung „it could be argued that any text whatsoever somehow conveys some sense of ‘world,’ however fragmentary or diffuse this might be“ legt offen, auf welch unsicherem Fundament (oder: Allgemeinplatz) die angenommene Beziehung zwischen der Welt einerseits und Welten in Texten andererseits fußt.

      Abhilfe schafft hier die Arbeit von Edward Said, der in The World, the Text, and the Critic darauf aufmerksam macht, dass es in der Literaturwissenschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Trennung zwischen „der Welt“ („the world“, mit bestimmtem Artikel) und dem Text kommt.

      American literary theory of the late seventies had retreated into the labyrinth of “textuality,” dragging along with it the most recent apostles of European revolutionary textuality–Derrida and Foucault–whose trans-Atlantic canonization and domestication they themselves seemed sadly enough to be encouraging. It is not too much to say that American and European literary theory now explicitly accepts the principle of noninterference, and that its peculiar mode of appropriating its subject matter (to use Althusser’s formula) is not to appropriate anything that is worldly, circumstantial, or socially contaminated. “Textuality” is the somewhat mystical and disinfected subject matter of literary theory. (3)

      Dieser Trend zur ‚Textualität‘ und deren Analyse als ausschließlicher, d.h. von „der Welt“ nicht „kontaminierter“ Gegenstand, wird von Said scharf kritisiert. Weiter erläutert Said sein Verständnis von ‚Welt‘ ausdrücklich, welches sich durch eine Ersetzung dieser durch ‚Realität‘ und/oder ‚Geschichte‘,3 wie er selbst vorschlägt, annäherungsweise beschreiben lässt. Außerdem versteht er hierbei den jeweiligen Text als Ergebnis eines eigenen Produktionsprozesses, und/oder als Reaktion auf einen spezifischen historischen Kontext. Von der Fähigkeit ‚Welten zu erzeugen‘ spricht er nicht, und vermeidet somit eine Vermischung dieser beiden Aspekte. Deutlich macht er dies durch eine simple Adjektivbildung: Texte sind – seiner Terminologie nach – „worldly“, womit er folgende Haltung beschrieben wissen will: „My position is that texts are worldly, to some degree they are events, and, even when they appear to deny it, they are nevertheless a part of the social world, human life, and of course the historical moments in which they are located and interpreted.“ (World 4) Das Adjektiv ‚worldly‘ steht somit ein für die Positionierung von Texten in ihrem historischen Kontext, und für ihre gesellschaftliche Rolle als (potenzielle) ‚Ereignisse‘. Said öffnet somit den Raum für die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Texten und ihrem historischen Kontext.4

      2.4 Körper und Ganzheit

      Das allgemeine Darstellungspotenzial des Körpers präsentiert sich als nahezu grenzenlos:

      The body is a model which can stand for any bounded system. Its boundaries can represent any boundaries which are threatened or precarious. The body is a complex structure. The functions of its different parts and their relation afford a source of symbols for other complex structures. (Douglas 142)1

      Nicht nur erklärt Mary Douglas den Körper hier zur ‚Super-Trope‘, die für „jedes geschlossene System stehen kann“, er ist darüber hinaus ein Modell, dessen Bildpotenzial sich aus seiner „komplexen Struktur“ ableitet. Da der Körper komplex ist, so die Argumentation, lässt er sich zur Abbildung anderer komplexer Strukturen instrumentalisieren. In Der fiktive Staat beschreibt Koschorke (et al.) dieses Potenzial des Körpers – anhand des Beispiel des ‚Staatskörpers‘ – wie folgt:

      Besondere Aufmerksamkeit gebührt dabei solchen rhetorischen Figuren, die ein Bild der Gesellschaft als GanzheitGanzheit entwerfen, wie es in erster Linie die Metapher des sozialen Körpers tut. Gehört zum Begriff der Ganzheit nämlich die Idee der Totalität und „Übersummativität“ des Gebildes (dass es, nach klassischer Definition, „mehr“ ist als die Summe seiner Teile), so ist doch gerade diese Totalität und Übersummativität, also gerade das ‚Ganze‘ der Ganzheit, sinnlich nicht wahrnehmbar: Weder das extensive Ganze der Gesellschaft noch die Gesellschaft als intensive Ganzheit sind mögliche Gegenstände einer empirischen Anschauung. Metaphern für das ‚Ganze‘ eines Gemeinwesens sind als Hypotyposen, Versinnlichungen eines Begriffs, die mit rhetorischen Mitteln vor Augen stellen, was anders nicht gesehen werden kann. (58)

      Die Metapher des Staatskörpers bringt den Staat zur sichtbaren Darstellung, wobei dies überhaupt erst nötig ist, weil „das ‚Ganze‘ der GanzheitGanzheit […] sinnlich nicht wahrnehmbar“ ist. In ihren Teilen kann Ganzheit wahrnehmbar sein, aber nicht als Ganzheit natürlich (oder: „empirisch“) gesehen werden. Immanuel Kant, auf den Koschorke (et al.) sich hier bezieht,

      unterscheidet zwischen schematischen Hypotyposen, ‚da einem Begriffe, den der Verstand faßt, die korrespondierende Anschauung a priori gegeben wird‘, und symbolischen Hypotyposen, ‚da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken kann und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche unterlegt wird‘. (Koschorke et al. 59)Hypotypose2

      Die Notwendigkeit zur Verwendung von Hypotyposen/Versinnlichungen ist bei der Darstellung von Ganzheiten dabei in besonderem Maße gegeben, da

      nach der klassischen philosophischen Erkenntnislehre Ganzheiten nur vermöge der Einbildungskraft apperzipiert werden können, weil sie nicht als solche empirisch ins Auge fallen, so muss auch die soziale Synthesis den Umweg über eine Erkenntnisform nehmen, die das, was man nicht sehen kann, in ein Bild kleidet. (Koschorke et al. 59)

      Die Wahl des Körpers als Bild, das die unsichtbare GanzheitGanzheit sichtbar macht, ist keineswegs beliebig, da „der menschliche Körper selbst gleichsam das ursprüngliche Vorbild auch noch des abstraktesten logischen Begriffs der Ganzheit“ (Koschorke