Welt als Körper. Thomas Erthel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Erthel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772001031
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zurücklegen (vgl. 16/I.1, 69/II.1). Der Text stellt kartografische Belange also wiederholt explizit in den Mittelpunkt; nicht zuletzt gilt das für die Passagen, in denen Gulliver die Landschaft vermisst. So lässt sich eine Spannung konstatieren zwischen den nicht nachvollziehbaren und insofern unsichtbaren Streichungen des Lektors einerseits, und den nichtsdestotrotz vorhandenen Bezügen auf kartografische Belange andererseits. Diese Spannung ist im Text im Allgemeinen satirisch: „Swift did not take geography more seriously than was necessary to satirize it; his carelessness with geographic details in Gulliver provides additional evidence of his contempt for natural, as opposed to moral, philosophy.“ (Bracher 74) Diese Beschreibung ist zutreffend, insofern sie einen Hang zur Nachlässigkeit in Sachen kartografischer Präzision konstatiert, der im Text eindeutig nachweisbar ist.

      Doch im zitierten Passus der Travels geht es nicht in erster Linie um die Relevanz kartografischer Daten und Verfahren, sondern um die Produktion eines Textes eines spezifischen Genres (ReiseliteraturReiseliteratur). Der Bericht einer Weltreise wird hier nicht als unmittelbares Produkt eines schreibenden Reisenden präsentiert, sondern als das Ergebnis eines verlegerischen Selektionsprozesses, der sich auf das Wissen und die Aufnahmefähigkeit einer allgemeinen Leserschaft bezieht („the general Capacity of Readers“), der zwei der grundsätzlichsten Techniken der ‚Erschließung‘ der Erde – NautikNautik und KartografieKartografie – angeblich unverständlich bleiben müssen. Und daher, so lautet das Postulat, bedarf es der Kürzungen und Vereinfachung des Textes. Fingierte, zwei ‚Erd-Techniken‘ betreffende Streichungen stellen also den Modus dar, unter dem die literarische Befahrung der Erde den Lesern der Travels allererst präsentiert wird. Der Text unterstreicht damit die Tatsache, dass Reiseerzählungen aus einem Verbund an (Macht-)Techniken hervorgehen, die sich auf die Erde beziehen. Denn Nautik und Kartografie sind eng mit kolonialen und imperialen Praktiken verknüpft, insofern sie die Bedingung der Möglichkeit europäischer ExpansionExpansion darstellen. Beide Techniken werden für den Leser gleich doppelt ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: einmal, indem eine fingierte Streichung inszeniert wird, ein anderes Mal, durch die dennoch im Text anzutreffenden Passagen, die sich mit eben diesen zwei Techniken eingehend beschäftigen.3 Die Rolle von Nautik und Kartografie, welche Fernwirkungszusammenhänge ermöglichen bzw. herstellen, tritt so in den Fokus. Noch vor seinem Beginn wird der Text im Rahmen expansiver Prozesse lokalisiert – Prozesse, deren Tendenz zur Unsichtbarkeit vom Text offenbar gemacht wird.

      Der Text stellt also eine fingierte Reduktion aus, der allzu technische Details zum Opfer fallen. Diese Reduktion ist in ihrer Form autoreflexiv, insofern sie mit dem Fiktionscharakter der Literatur (von dem zur Zeit Swifts freilich noch nicht in diesen Worten die Rede ist) spielt. Der Name des Lektors, der den Paratext unterzeichnet, „Richard Sympson“, verweist gleichermaßen auf den realen Herausgeber Richard Simpson, der einige Texte Swifts publizierte, und William Symson, Autor des „largely plagiarized A Voyage to the East Indies“ (Swift, Travels 6, Fußnote 6). Die Travels reihen sich so bewusst ein in die allzu lange Kette von Reiseberichten fragwürdiger Qualität und Authentizität, welche „during this ‘Silver Age of Travel’“ (Bracher 59) den Buchmarkt überschwemmen.4 Der Bezug zu GanzheitGanzheit ist in diesem Paratext bereits in eine spezifische Form gegossen: NautikNautik und KartografieKartografie sind hier das Medium einer literarischen Selbstreflexion, über die das Verhältnis zwischen Text und Erde austariert wird; im Modus eines ausgestellten Fingiert-Seins wird auf die Mittelbarkeit von Reiseerzählungen reflektiert.

      2.3.2 Lokalisierung der ‚Nationen‘

      Die vier Teile der Travels verbindet, dass alle in ihrem Verlauf besuchten Orte kartografisch auf der Erde verortet werden. Bekanntlich steht am Anfang jedes der vier Teile des Textes eine Karte, die das Geschehen geografisch lokalisiert.1 Der unbekannte Zeichner der Karten in den Travels hatte bei seiner Arbeit wohl mit einigen Problemen zu kämpfen, da die Präzision der kartografischen Verortungen im Text starken Schwankungen unterliegt bzw. in manchen Fällen sogar schlicht mit dem kartografischen Wissen der Zeit nicht in Einklang zu bringen ist.2 Zu einem Zeitpunkt, an dem die konkreten Konturen aller KontinentKontinente und Inseln der Erde noch lange nicht in allen Details erfasst sind und die Weltkarte noch weiße Flecken enthält (vgl. Stockhammer, Kartierung 92), lokalisieren die Travels die Darstellung von Gesellschaften (d.h.: die Inseln, Halbinseln und Kontinente, auf denen Gulliver fremde nations entdeckt) in eben diesen (noch) nicht kartografierten Regionen. Der unabgeschlossene Prozess der Kartierung der Erde stellt also die ‚Bedingung der Möglichkeit‘ dieses spezifischen Textverfahrens dar, insofern der konkrete Stand der kartografischen und damit immer auch kolonialen Erschließung der Erde die Verortung und den Umfang der möglichen Projektionsflächen definiert: die weißen Flecken auf der Weltkarte. Durch diese Lokalisierung wird insofern auf die GanzheitGanzheit reflektiert, als sie den expansiven Prozess der Erschließung der Erde – zu einem spezifischen Zeitpunkt in seinem Verlauf – getreu abbildet. Zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt wäre die Lokalisierung der ‚Nationen‘ nicht auf die exakt gleiche Art möglich.

      Benedict Anderson spricht in Imagined Communities davon, dass die inszenierten Orte der Travels realen ‚Entdeckungen‘ nachempfunden seien:

      Francis Bacon’s New Atlantis (1626) was perhaps new above all because it was situated in the Pacific Ocean. Swift’s magnificent Island of the Houyhnhnms (1726) came with a bogus map of its South Atlantic location. (The meaning of these settings may be clearer if one considers how unimaginable it would be to place Plato’s Republic on any map, sham or real.) All these tongue-in-cheek utopias, ‘modelled’ on real discoveries, are depicted, not as lost Edens, but as contemporary societies. One could argue that they had to be, since they were composed as criticisms of contemporary societies, and the discoveries had ended the necessity for seeking models in the vanished antiquity. In the wake of the utopias came the luminaries of the Enlightenment, Vico, Montesquieu, Voltaire, and Rousseau, who increasingly exploited a ‘real’ non-Europe for a barrage of subversive writings directed against current European social and political institutions. In effect, it became possible to think of Europe as only one among many civilizations, and not necessarily the Chosen or the best. (Anderson 69f.)

      Anderson beschreibt, dass das Spezifische der im 17. und frühen 18. Jahrhundert18. Jahrhundert (Welt-System) geschriebenen „Utopien“ in deren real-kartografischer Lokalisierung und eindeutigem Bezug zu zeitgenössischen „real discoveries“ besteht. Damit werden die neu entdeckten Regionen der Erde gleich doppelt ausgebeutet: Nicht nur werden sie zu Kolonien Europas, sie dienen zusätzlich dem Vorstellen von alternativen (auf Europa kritisch bezogenen) Gesellschaftsentwürfen. Mit der Klassifizierung der Travels als „tongue-in-cheek“ Utopie gibt Anderson freilich eine diskutable Beschreibung der Travels, die jedoch insofern völlig einwandfrei ist, als sie den intertextuellen und parodistischen Charakter der Travels betont, der ihr wesentlichstes Merkmal ist.

      Der affirmative Charakter des Verwendens von kartografischen Diskurselementen darf dabei jedoch auch nicht überschätzt werden. Der Text generiert kartografische Präzision zumeist nur gerade so weit, wie nötig ist, um sie in einem zweiten Schritt überraschend enttäuschen zu können. Der Status der KartografieKartografie im Text ist damit von ambivalentem Charakter, insofern über sie einmal ein spezifischer Stand in der Erschließung der Erde abgebildet wird und andererseits die (schwankende) Präzision dieser Abbildung satirische Züge trägt.

      Zusätzlich jedoch können die in den ‚Nationen‘ angetroffenen Bewohner (die verkleinerten Lilliputians und die vergrößerten Brobdingnagians der ersten zwei Teile, die ‚entstellten‘ Bewohner Laputas, sowie die Yahoos und die Hounynhms der letzten beiden) in einem erheblich viel kleineren Raum lokalisiert werden, als in den noch nicht kartografierten Regionen der Erde. Denn Dennis Todd macht deutlich, dass sämtliche ‚Anblicke‘, denen Gulliver auf seinen Reisen begegnet, im Rahmen von „tourist sights, public entertainments, shows, spectacles and exhibitions in the streets and at the fairs of London“ (Tod 396) beobachtet werden konnten. Diese Londoner Shows zeigten, als Teil einer populären Straßenkultur, Miniaturen (von Stadtansichten, Schlachten etc.), Zwerge, Riesen, Menschen mit vermeintlich ‚tierischen‘ Merkmalen und – nicht zuletzt – überraschend ‚intelligente‘ Pferde, die