Welt als Körper. Thomas Erthel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Erthel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772001031
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GanzheitGanzheit des Staates als Körper wird nicht nur die Vorstellung von Ganzheit selbst, die der Körper traditionell transportiert, auf den Staat übertragen: die Darstellung vollzieht parallel weitere Übertragungen von Elementen und Eigenschaften, die, gewissermaßen als „Cargo“ (Mahr 162),3 auf den Staat transferiert werden:

      [S]o leistet die Metapher des sozialen Körpers die Übertragung eben jener vom menschlichen Körper abgezogenen Bestimmungen auf den Staat. Dazu gehören, neben Totalität (Vollständigkeit), Übersummativität (Kontinuität) und funktionaler Differenzierung vor allem auch Gegebenheit (Natürlichkeit), Unteilbarkeit und Fraglosigkeit der ‚Systemgrenzen‘, deren Vorstellungen dem Begriff des Staats auf metaphorischem Wege „unterlegt“ werden. (Koschorke et al. 60)

      Der Vorgang ist der einer metaphorischen Übertragung (oder: Unterlegung) mit mehrfachem Cargo („Totalität“, „Übersummativität“, „funktionale Differenzierung“, „Gegebenheit“, „Unteilbarkeit“, „Fraglosigkeit der ‚Systemgrenzen‘“), die sich weiter genauer als HypotyposeHypotypose/Versinnlichung klassifizieren lässt. Hier wird also nicht etwa Achill zum Löwen, sondern einem Gegenstand, dem in der Realität ‚keine Anschauung korrespondieren kann‘ (und d.h. vor allem keine, die ihn in seiner Gänze zeigen kann), wird überhaupt erst eine Anschauung gegeben, er wird „in ein Bild [ge]kleidet“ (s.o.).4

      Einer deutlich größeren GanzheitGanzheit – der ‚Welt‘ bzw. dem ‚Kosmos‘ – und ihrem Verhältnis zum (bzw. ihrer Darstellung durch den) Körper nimmt sich die mittelalterliche Konzeption des MakrokosmosMikrokosmos/Makrokosmos/Mikrokosmos an. Die Beziehung zwischen Ganzheit und Körper gestaltet sich dabei wie folgt:

      Der MikrokosmosMikrokosmos/Makrokosmos ist nicht nur ein kleiner Teil des Ganzen, nicht ein Element des Weltalls, sondern gleichsam seine verkleinerte und es nachbildende Replik. Nach der Idee, die von Theologen und Dichtern geäußert wurde, ist der Mikrokosmos ganzheitlich und in sich vollendet wie auch die große Welt. Man stellte sich den Mikrokosmos in Form eines Menschen vor, der nur im Rahmen des Parallelismus ‚kleines‘ und ‚großes‘ Weltall verstanden werden kann. (Gurjewitsch 65)

      Es handelt sich also um eine Parallelisierung, welche auf der „völligen Analogie zwischen Weltall-Makrokomos und Mensch-MikrokosmosMikrokosmos/Makrokosmos“ (400) beruht, die sich detailliert ausbuchstabieren lässt: „Jeder Teil des menschlichen Körpers entspricht einem Teil des Weltalls: der Kopf dem Himmel, die Brust der Luft, der Bauch dem MeerMeer, die Beine der Erde, die Knochen den Steinen, die Adern den Zweigen, die Haare dem Gras und die Gefühle den Tieren.“ (65) Wie man an dieser Aufreihung erkennen kann, handelt es sich um einen hochgradig konventionalisierten Analogieschluss, dessen einzelne Bestandteile ohne Vorwissen nicht zwingend einleuchten. Die Vorstellung vom Makrokosmos/Mikrokosmos, die „im mittelalterlichen Europa, insbesondere seit dem 12. Jahrhundert“ (65) äußerst populär ist,5 zeitigt zahlreiche bildliche Darstellungen, die menschliche Körper mit dem Kosmos im Wechselverhältnis zeigen (vgl. Gurjewitsch 67f.) und beruht des Weiteren auf der zeittypischen Vorstellung, dass die GanzheitGanzheit dualistischen Charakters ist.Mikrokosmos/Makrokosmos6 Der Körper ist also auch jenseits der StaatskörperStaatskörper (body politic)-Metapher im europäisch-christlichen Denken seit Langem mit Ganzheit assoziiert, d.h., dass der Körper somit schon seit geraumer Zeit und in verschiedenen Varianten in ein überraschendes Näheverhältnis zu kleineren und größeren Ganzheiten gerückt wird.7

      In Fragen der Darstellung von GanzheitGanzheit verdient das Konzept der HypotyposeHypotypose besondere Aufmerksamkeit, denn die Darstellung der Ganzheit des Staates als Körper (bzw. die breite und aufschlussreiche Forschung zu dieser Thematik) kann die Perspektive auf die Darstellung von größeren Ganzheiten informieren. Der StaatskörperStaatskörper (body politic) kann so als Modell dienen, zu dem sich Relationen zwischen Körpern und größeren Ganzheiten in ein Verhältnis setzen lassen. Denn was für den Staat gilt, trifft auch auf größere Ganzheiten zu: „Das Ganze der Welt ist der Wahrnehmung nicht zugänglich“ (Moser u. Simonis 12). Das Argument des Abstandes zwischen Ganzheit und Wahrnehmung kann so auf eine mögliche Brücke hin geöffnet werden: der Staatskörper, der auf dem allgemeinen hohen Potenzial des Körpers zur Darstellung von „bounded systems“ (Douglas 142) fußt.Mikrokosmos/Makrokosmos8

      Um das allgemeine Darstellungspotenzial von Körpern im Kontext von GanzheitGanzheit weiter darzulegen, ist auf die Rolle des Körpers im kartografischen Kontext einzugehen, der untrennbar mit dem Themenfeld des Kolonialismus verknüpft ist. Das enge Verhältnis zwischen Körper und KartografieKartografie (vgl. III.2.3, III.4.4.4) wird angesichts folgender Beschreibung zunächst überraschend erscheinen: „Die Karte bringt zahlengenaue Maßverhältnisse ins Spiel, abstrahiert von der idiosynkratischen Perspektive einzelner Subjekte und von deren seelischer Tiefe“ (Stockhammer, Kartierung 8). Dennoch gibt das menschliche Herz frühen Weltkarten ihre Form (vgl. Ramachandran 33–39), bzw. werden in Darstellungen, die Karten begleiten und rahmen, gehäuft riesenhafte menschliche Körper platziert (Ramachandran 23, 51f.). Außerdem füllen und schmücken die Darstellungen von Tieren und Menschen Globen und Karten, und bewohnen dabei zumeist unbekannte oder entlegene Regionen der Erde. Abgebildeten Kannibalen und Monstern kommt hierbei gehäuft die Rolle zu, die Peripherie der (bekannten) Erde zu markieren; so schienen etwa „die amerikanischen Reiseberichte eine Bestätigung jener antiken Prognosen zu liefern, nach denen am Rande der Welt MonsterMonster, Fabel- und Zwitterwesen leben: Kannibalen, kopflose Wesen (Acephali), Satyre, Amazonen, Hermaphroditen, Monstergestalten“ (Manow 23; zu diesen Monstern vgl. auch Daston u. Park 205).9 „As writers struggled to represent the novelty of the American hemisphere for a European audience back home, monsters and marvels became coextensive with terra incognita in colonial representations.“ (Barrenechea 27)

      Man denke weiter an den AtlasAtlas (Mythos)- bzw. Herkules-Mythos, in dessen bildlicher Darstellung ein riesenhafter Mann einen Globus schultert. Jörg Dünne hat mit Bezug auf frühneuzeitliche Beschreibungen darauf aufmerksam gemacht, dass die „Ansicht der Welt in einer zweidimensionalen Karte […] den Augen ein ähnliches Unwohlsein“ verursacht „wie das Gewicht der Erdkugel, die Herkules in dem Moment, als er sie Atlas abnimmt, auf seinen Schultern zu spüren bekommt“ (12), womit ein gleich doppelt körperliches Verhältnis zur Karte (im Erschrecken einerseits und dem Bild des Atlas/Herkules andererseits) in Szene gesetzt wird. Atlas gibt darüber hinaus einem kartografischen Genre seinen Namen, beginnend mit dem Atlas von Mercartor, womit ein signifikanter Übergang markiert wird:

      From a literary historical perspective, the volume’s title [AtlasAtlas (Mythos); T.E.] is striking and strange. It introduces a new nomenclature for the map book, replacing conventional metaphors with the materiality of the human body. […]. The Atlas troubles the illusion of the map as a transparently mimetic object–a “mirror of the world”–by highlighting the function of the human mapmaker as a mediator; it is through his particular perspective and technical gaze that we see the world visualized on the page. (Ramachandran 27)

      Weiter werden im Rahmen der Engführung von Körper und KartografieKartografie die Relationen zwischen anthropomorphen Körpern und der GanzheitGanzheit in außergewöhnliche Größenverhältnisse gesetzt, insofern der menschliche Körper die Erdkugel schultert, oder als Riese von kosmischen Ausmaßen den Erdglobus – gleichsam Erde und ihre Repräsentation – in den Händen hält, wie auf dem Titelkupfer des AtlasAtlas (Mythos) von Gerhard Mercartor (1595); „as an allegory of making it announces a bold argument: the mapmaker embodies the world. In material and metaphorical ways, the human body and the global body become one.“ (Ramachandran 22) Ayesha Ramachandran schreibt weiter:

      Rhetorically, the materialities of geographic and bodily space become powerfully fused in the early modern period, paving the way for subsequent analogies between the human body and the great body of the world. (31)

      Neben diesem Zusammenhang ist auch auf die Nähe zwischen KartografieKartografie und AnatomieAnatomie hinzuweisen, insofern beide wiederholt, so kontraintuitiv es erscheinen mag, als ähnlich beschrieben wurden (Ramachandran 29–32).

      Weiter ist die Darstellung von Körpern in kolonialen Kontexten zu nennen – einmal im Rahmen der Diffamierung des Anderen (vgl. Manow 23–26) und einmal im Rahmen der Darstellung von zu kolonisierenden