Als ich heute Abend nach Hause kam, fand ich in meinem Briefkasten wie immer Rechnungen, die ich sofort zerriss (ich weiß, viele Hausfrauen würden das auch gerne tun, ich kann es mir leisten, weil ich nichts besitze, was der Gerichtsvollzieher bekleben könnte: nur ein paar Bücher und eine alte Schreibmaschine, trotz meines erfolgreichen Romanerstlings. In den Augen der anderen sehr erfolgreich, privat weiterhin arm). Doch was sehe ich ganz unten im Kasten? Einen kleinen gelben Umschlag. Ich öffnete ihn so gierig, dass ich fast den Scheck zerrissen hätte (ein saftiger Vorschuss für die Reportage über Nordamerika, schon klar, hauptsächlich über die Vereinigten Staaten, denn daher kommt mein Geld. Wie beim Kino, wo das Filmland von der Herkunft des Geldes abhängt. So vermeidet man die lächerlichen Identitätsdebatten, die den Professoren für Postkoloniale Literatur so viel bedeuten). Dieses Geld ist für die Reisekosten vorgesehen: die Flugtickets, die Zugfahrkarten, die Busfahrkarten, die Mahlzeiten, Hotels et cetera. Diese Typen sind wirklich schnell. Bei mir ist es das Gegenteil. Ich bin sehr langsam. Ich werde mich einen guten Monat ausruhen müssen, bevor ich meine Erforschung Amerikas unternehme. Am besten fange ich damit an, diesen Scheck auf den Kopf zu hauen. Nachdem ich die Miete für den gesamten Sommer auf die Seite gelegt hatte (obwohl man nicht da ist, muss man die Miete, das Telefon, den Strom et cetera bezahlen), ging ich und kaufte mir das Gesamtwerk von Walt Whitman, dazu alle Romane von Dostojewski aus dem Verlag La Boëtie, eine Reiseerzählung von Naipaul und einen wunderschönen Brieföffner. Da Heißwasser mich nichts kostet, verbringe ich den ganzen Tag in der Badewanne. Nur nachts gehe ich vor die Tür. Ich lege mich in die randvolle Badewanne, nachdem ich auf einen Stuhl in Reichweite die Bücher und dazu ein Frottiertuch gelegt habe, um die Hände abzutrocknen. Dieses Abenteuer unternehme ich zum allerersten Mal. Einen ganzen Monat einen einzigen Autor zu lesen (Whitman spare ich mir für die Reise auf). Ich glaubte, so ein snobistisches Verhalten legten nur Proustleser an den Tag. In dieser Badewanne, die ich nur verließ, um mir mittags einen Obstsalat und abends Spaghetti mit Tomatensoße zuzubereiten, habe ich dann die aufregendste Reise meines Lebens unternommen. Zum einen durch das riesige zumeist vereiste Russland, zum anderen durch eine noch mysteriösere Gegend, das Herz von Dostojewski. Mehr brauche ich nicht zum Glücklichsein.
Dann kommt immer der Moment der Entscheidung, wenn meine Nachbarin, und zwar die, die jeden Sommer fast nackt auf ihrem Balkon sonnenbadet, bei mir klopft, damit ich ihr helfe, eine Flasche Rotwein zu öffnen (Wein ist für mich nur der rote). Ich komme ins Schwimmen. Ich bin schon derart beschäftigt mit der schrecklichen Gruschenka, wegen der sich die beiden Brüder Karamasov in Verlangen und Eifersucht verzehren werden. Mörderischer Liebeswahn. Aber diesmal hat sie einen anderen Vorwand, sie will von mir eine Zitrone. Sogleich und vor meinen Augen nimmt Sonia, so heißt die Nachbarin, die Züge von Gruschenka an. Ist dieser Schriftsteller so stark? Warum waren mir bisher die hohen Wangenknochen, die vollen Lippen und die Augen einer Tartarenprinzessin bei meiner Nachbarin nie aufgefallen? Dass sie immer so viel trinkt, bis sie am Boden liegt. Ihr strahlendes Lächeln, das mit finsteren Blicken wechselt. Ich sehe wieder, wie sie mir an manchen Tagen mit verschlossener, wütender, finsterer Miene begegnet. Die schwarze Flagge der Depression. Wenn ich die Treppe heraufkam, hatte ich häufig ein lautes Gebrüll aus ihrer Wohnung gehört und das immer auf die Einsamkeit der Ehefrauen zurückgeführt, wenn der Mann auf den Baustellen von Saint James-Bay arbeitet. Die Traurigkeit der Verlassenen. Ich fülle heißes Wasser nach (gerade heiß genug, dass es mir angenehm ist) und tauche wieder in das dostojewskische Universum. Dieser Fjodor Michailowitsch ist ein echter Teufel! Nach drei Abschnitten hat er mich wieder am Haken.
Da kommt die schreckliche Sonia schon wieder. Ich höre auf der Treppe ihre entschiedenen Schritte. Sie hat sich umgezogen und trägt jetzt ein leichtes gelbes Kleid, aber keine Schuhe, und eine Fußkette (eine Schlange) an einer der Fesseln. Sie bringt Austern, Zitrone, Salz, zwei Flaschen Wein und zwei Gläser. Ich schließe die Augen und sie setzt sich voll angezogen zu mir in die Wanne.
„Ich komme, um mit dir den Sommer zu feiern“, sagt sie nur.
AMERIKA, WIR KOMMEN!
Damals versuchte ich (keine Ahnung, wie dieser Ehrgeiz von mir Besitz ergreifen konnte) einen Roman zu schreiben und in Amerika zu überleben. Eines davon war zu viel. Du musst dich entscheiden, Alter. Doch ich wollte alles. Der beste Weg in den Untergang. Ich wollte den Roman, die Mädchen (die