Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand. Dany Laferriere. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dany Laferriere
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783884236604
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möchte Ihnen auch eine Frage stellen.“

      „Wieso mir!“, wehrte sie errötend ab, „Ich habe doch kein Buch geschrieben.“

      „Ja, aber Sie lesen.“

      „Stimmt, ich lese gern.“

      „Warum ist es Ihnen so wichtig zu wissen, ob die Geschichte so passiert ist?“

      Kurze Pause.

      „Ich möchte wissen, ob der Autor das alles echt erlebt hat.“

      „Ja … aber warum?“

      „Ich weiß nicht …“, sagte sie mit ihrem empfindsamen Lächeln.

      „… man fühlt sich ihm dann näher.“

      „Und wenn er Sie anlügt?“

      „Wieso?“

      „Wenn er behauptet, er hätte das erlebt und es ist nicht wahr?“

      „Dann bin ich enttäuscht …“ (sie lachte etwas geniert.) „Man wird die Wahrheit wohl nie erfahren.“

      „Warum also?“

      „Nur so eine Idee.“ Und lachend: „Wollen Sie etwas verbergen?“

      „Vielleicht, aber ich weiß nicht, was …“

      Sie lächelte wieder.

      Ich fragte sie völlig unvermittelt: „Wie lesen Sie?“

      „Überall.“

      „In der U-Bahn?“

      „Auch in der U-Bahn.“

      Nichts ist für mich faszinierender als ein junges Mädchen, das in der U-Bahn liest. Ich weiß nicht warum, aber Tolstoi ist in der U-Bahn mit Abstand der Sieger, mit Anna Karenina, natürlich.

      „Es gibt Leute, die überall lesen, aber nicht irgendwas“, sagte ich, um irgendwas zu sagen.

      „Ich lese alles mögliche.“

      „Dann sind Sie die perfekte Leserin.“

      Ein Wagen fuhr dicht an uns vorbei. Sie sprang zur Seite.

      „Ich bin sicher, Sie lesen die Bücher nicht zu Ende.“

      „Entschuldigen Sie, das habe ich nicht richtig verstanden“, sagte sie, während sie sich mit Mühe wieder fing.

      „Wenn Sie ein Buch beginnen, lesen Sie es bis ans Ende?“

      „Immer.“

      Sie war wieder da.

      „Irgendwo stimmt was nicht“, behauptete ich mit einem Lächeln.

      Sie lachte leise.

      „Vielleicht, dass ich mir nichts merke.“

      „Was heißt das, nichts.“

      „Ich meine, weder den Namen des Autors …“

      Es gab mir einen kleinen Stich ins Herz.

      „… noch den Titel“ fügte sie hinzu.

      „Eigentlich ist das nicht schlimm, denn wichtig ist nur das Buch.“ Ein leiser Seufzer.

      „Ich kann mir auch nicht merken, worum es geht … Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich noch nie ein Buch gelesen.“

      „Das ist unglaublich … Sie lesen etwas und im nächsten Augenblick haben Sie es vergessen?“

      „Genau.“

      Ein längeres Schweigen.

      „Warum lesen Sie überhaupt?“

      „Zum Zeitvertreib.“

      „Ach so … Macht es Ihnen etwas aus, dass Sie alles vergessen?“

      „Oh ja!“

      Jetzt wurde ihr offenbar peinlich bewusst, dass ich ihr eine sehr persönliche Frage gestellt hatte.

      „Doch in Ihrem Alltag stört Sie dieses Handicap nicht?“

      „Nein, denn es geht mir nur mit den Büchern so. Sie meinen, mir fehlt etwas? Bestimmt nicht, ich arbeite in einem Büro ganz in der Nähe und ich schwöre Ihnen, da brauche ich ein gutes Gedächtnis … Ich bin Anwaltsgehilfin.“

      „Wie kommt es, dass Sie mich einfach auf der Straße angesprochen haben? Ich merke doch, dass Sie eigentlich schüchtern sind …“

      Sie schenkte mir ihr schönes kehliges Lachen.

      „Ja, ich bin schüchtern. Ich weiß nicht. Vielleicht weil ich Sie schon im Fernsehen gesehen habe.“

      „Vielleicht haben Sie auch schon eines meiner Bücher gelesen.“

      „Nein, das glaube ich nicht.“

      Kurze Pause.

      „Oder doch … Vielleicht habe ich eines Ihrer Bücher gelesen.“

      „Sie geben einem wirklich keinen Anlass, stolz zu sein.“

      Wieder dieses kleine schüchterne Lachen.

      „Entschuldigen Sie …“

      „Ich möchte Sie gerne etwas fragen …“

      „Ja“, hauchte sie und legt den Kopf zur Seite.

      „Sind Sie verliebt?“

      Diesmal war ihr Lachen heiser:

      „Sie sind aber neugierig … Es ist wahr, Sie sind ein echter Schriftsteller.“

      „Ein Schwarzer Schriftsteller“, ergänzte ich lachend.

      „Was heißt das? Ist es besser?“

      „Leider nicht.“

      „Das heißt?“

      „Es ist nicht besser.“

      „Ach so.“

      „Ja.“

      „Schade.“

      „Es hat auch Vorteile …“

      „Nämlich?“

      „Wir sind weniger … Es fällt leichter, der größte lebende Schwarze zu werden.“

      „Und dann?“, fragte sie mit einem verschmitzten Lächeln.

      „Dann stirbt man.“

      Mein Blick war kurz von einem Mädchen abgelenkt, das auf der anderen Straßenseite entlangging. Sie hatte einen wirklich kurzen grünen Rock (ein Taschentuch) und Beine, die wohl noch etwas teurer waren als eine Brosche bei Tiffany’s. Als ich mich wieder umwandte, um das Gespräch fortzusetzen, war meine Gesprächspartnerin weg. Woher kam sie? Wohin ging sie? Was wollte sie? Das sind Fragen, die man in Nordamerika nicht stellt.

      IN DER BADEWANNE

      Damals wohnte ich in der Rue Saint-Hubert, hinter dem Busbahnhof von Montréal. Die Autobusse starteten pausenlos zu Zielorten (Shawinigan, Rimouski, Gaspé), die für mich damals exotisch klangen. Von meinem Fenster beobachtete ich noch mit einem Gefühl der Überlegenheit (da waren Passagierdampfer was anderes), wie sie losfuhren. Ich wohnte allein, in einem Zimmer im dritten Stock. Eine kleine Küche, ein aufgeplatzter Sessel, ein Sofa und überall Bücher. Dazu meine Remington 22. Es war nicht schwierig, an der Ecke frisches Gemüse zu kaufen und bei dem winzigen Dépanneur gleich nebenan fand ich billigen Wein bis in die Nacht. Wenn ich mich einsam fühlte, brauchte ich nur die U-Bahn zu nehmen und konnte mit einer Fahrkarte mir den ganzen Tag meinen Weg durch diesen Dschungel aus Leibern, Hintern und Sprachen bahnen und vor allem den fremden Geruch dieser Menschen schnuppern. Die meisten Leute fahren im Sommer lieber mit dem Bus. Ich steige gern in die Erde