Status auch innerhalb des Systems nicht permanent
Doch auch für kategorial verfasste schulische Behinderungsstatus trifft zu, was Barnartt (2010) als «Fluidität von Behinderung» kennzeichnet. Selbst wenn man in Rechnung stellt, Behinderung sei ein zwar relationaler, aber letztlich an Personen innerhalb ihrer jeweiligen Umwelt gebundener Status – die Rede von «Menschen mit Behinderung» legt dies ebenso nahe wie fast alle schulisch-administrativen Behinderungskategorien –, so wäre es doch irreführend, solche Status als grundsätzlich permanente zu verstehen, erst recht innerhalb einer Umwelt, wie sie die Schulsysteme darstellen. Es gehört zum Kernprogramm der Schule, menschliche Fähigkeiten und Performanz als fluid und veränderbar zu betrachten und so umfassend wie möglich zu fördern, wenn nötig auch durch kompensatorische Maßnahmen, Hilfsmittel oder die Variation von Anforderungen. → Siehe Beitrag von Luder und Kunz. Verbessert sich die schulspezifische «Performanz» (ICF) von Schülerinnen und Schülern, weil barrieren- oder individuell-funktionsbezogene Interventionen, auch und gerade jene, die durch kategoriale Bedarfsstatus ausgelöst werden, genau das bewirken, was sie ihrem Anspruch nach bewirken sollen, dann kann die Grundlage für die Zuschreibung schulischer Behinderungsstatus entfallen. Treten Jugendliche mit dem Ende des Pflichtschulalters aus dem Schulsystem aus, dann enden schulspezifische Behinderungsstatus ohnehin.
Schulische Behinderung kann nach wie vor Exklusion legitimieren
Auf schulische Anforderungsstrukturen und deren hohes Maß an öffentlicher und politischer Legitimität ist ein Phänomen zurückzuführen, das gleichsam auf die Schattenseite der Institution der schulischen Behinderung verweist: anhaltende Exklusion. Denn nicht nur Anforderungsstrukturen, Ziele und Förderstrategien von Pflichtschulsystemen sind im Kern performanz- und fähigkeitsbasiert, sondern auch die formalen In- und Exklusionsregeln ihrer Organisationen.
UN-BRK: «Gleichberechtigt mit anderen»
Behinderung ist in allen gängigen, rechtlich relevanten Listen von Diskriminierungsmerkmalen aufgeführt, mittels deren Diskriminierung in Bildungssystemen reduziert werden soll. So hat die Schweiz 2014 das Übereinkommen der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (kurz: UN-BRK) ratifiziert, einen verbindlichen Völkerrechtspakt, dessen Vertragsstaaten mit der Ratifizierung konkrete Verpflichtungen eingegangen sind (ausführlich: Bielefeldt, 2011; Degener, 2009; Kälin et al., 2008). Zu diesen Verpflichtungen gehören die in Pädagogik und Bildungspolitik intensiv diskutierten Verpflichtungen in Artikel 24, ein «inclusive education system at all levels» ebenso sicherzustellen wie den Zugang aller Schülerinnen und Schüler mit Behinderung zu «inclusive, quality and free primary education and secondary education on an equal basis with others in the communities in which they live» – gleichberechtigt mit anderen, in der Gemeinde, in der sie leben.
Für Schulsysteme, die auf das Vorliegen eines schulischen Behinderungsstatus über Jahrzehnte fast automatisch mit Exklusion in Sonderschulen und Sonderklassen reagiert hatten, brachte die UN-BRK einen deutlichen Veränderungsdruck. Sonderschulen, erwartete die Juristin Degener im Jahr 2009, würden «durch die BRK zwar nicht kategorisch verboten, die systematische Aussonderung behinderter Personen aus dem allgemeinen Bildungssystem stellt allerdings eine Vertragsverletzung dar» (Degener, 2009, S. 216 f.).
Sonderstellung der Differenzdimension «schulische Behinderung »
Doch kommt trotz der UN-BRK auch in Staaten wie der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein und Österreich Kategorien schulischer Behinderung nach wie vor eine einzigartige Stellung zu. Obgleich eine nahezu automatische Exklusion allein wegen des Vorliegens eines schulischen Behinderungsstatus der Vergangenheit angehört, kann Kindern und Jugendlichen nach wie vor ausschließlich unter Rückgriff auf a) spezifische diagnostizierte Performanzdefizite oder b) spezifische Bedürfnisse und Bedarfe, von denen angenommen wird, dass ihnen nur an besonderen Förderorten entsprochen werden kann, der Zugang zu öffentlichen Regelschulen und Regelklassen verwehrt werden. Dies auch dann, wenn an Förderorten Kinder mit externalisierend-aggressivem Verhalten zusammengeführt werden; möglicherweise wird dann eine ungünstigere Entwicklung der Fähigkeiten und Lebenschancen des betroffenen Kindes oder Jugendlichen in Kauf genommen.
Verlagerung von Exklusionsbegründungen auf Performanzdefizite und Fördersemantik
Unter explizitem Rückgriff auf ein Merkmal wie die soziale Herkunft eines Kindes oder Jugendlichen wäre die Begründung eines solchen Ausschlusses offen diskriminierend und damit eindeutig rechtswidrig. Pfahl konstatiert daher eine Verlagerungstendenz: Ehemals ständisch organisierte Bildungssysteme nehmen heute oftmals den Umweg über die Zuschreibung von Performanz- beziehungsweise Kompetenzdefiziten und das Versprechen einer «individuellen Förderung», um Formen der Segregation von Kindern und Jugendlichen entlang sozialer Herkunft zu legitimieren (Pfahl, 2010, S. 1 f.).
Literatur
Barnartt, S. (2010). Disability as a fluid state: Introduction. In Barnartt, S. (Hrsg.), Disability as a fluid state. Research in Social Science and Disability, Volume 5 (S. 1–22). Emerald.
Bielefeldt, H. (2011). Inklusion als Menschenrechtsprinzip: Perspektiven der UN-Behindertenrechtskonvention. In Moser, V. & Horster, D. (Hrsg.), Ethik der Behindertenpädagogik. Menschenrechte, Menschenwürde, Behinderung – eine Grundlegung (S. 149–166). Kohlhammer.
Degener, T. (2009). Die UN-Behindertenrechtskonvention als Inklusionsmotor. Recht der Jugend und des Bildungswesens, (2), 200–219.
Kälin, W., Künzli, J., Wyttenbach, J., Schneider, A. & Akagündüz, S. (2008). Mögliche Konsequenzen einer Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Schweiz. Gutachten zuhanden des Generalsekretariats GS-EDI/Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB. Institut für öffentliches Recht der Universität Bern.
Kastl, J. M. (2010). Einführung in die Soziologie der Behinderung. VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Pfahl, L. (2010). Sonderschulen, Arbeitsmärkte, behindernde Subjektivierung. In Soeffner, H.-G. (Hrsg.), Unsichere Zeiten. Verhandlungen des 43. Kongresses der DGS. Band 2 (CDROM). Campus.
Powell, J. J. W. (2013). Kulturen der sonderpädagogischen Förderung und «schulische Behinderung»: Ein deutsch-amerikanischer Vergleich. In Hummrich, M. & Rademacher, S. (Hrsg.), Kulturvergleich in der qualitativen Forschung. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven und Analysen (S. 139–154). Springer VS.
Tomlinson, S. (2017). A sociology of special and inclusive education. Exploring the manufacture of inability. Routledge.
UN (2014). Convention on the rights of persons with disabilities. www.un.org/disabilities/convention/conventionfull.shtml.
Weisser, J. (2010). Sozialraumorientierung und Situationen der Behinderung. Über die sozialräumliche Strukturierung von Abhängigkeitsbeziehungen. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, (1), 4–10. doi:10.2378/vhn2010.art01d.
ICF als gemeinsame konzeptuelle Grundlage
Judith Hollenweger
Von einer Behinderung betroffene Kinder und Jugendliche erfahren in der Schule oft eine fehlende Passung zwischen Anforderungen und ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten. Behinderung bedeutet immer sowohl «behindert sein» als auch «behindert werden». Traditionelle Behinderungskategorien suggerieren hingegen unveränderliche Eigenschaften und entziehen sich somit einer situativen Analyse. Die «Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit» (International