Umweltfaktoren müssen in Bezug auf bestimmte Situationen erfasst und verstanden werden, denn es wäre unmöglich, immer alle irgendwie vorhandenen Umweltfaktoren zu berücksichtigen. Wichtig sind diejenigen Faktoren, die in einer bestimmten Situation für die betreffende Person von Bedeutung für ihre Funktionsfähigkeit sind. Der Pollengehalt in der Luft ist nur für Kinder mit einer Allergie ein relevanter Umweltfaktor; die Treppen im Schulhaus sind nur für Kinder mit körperlichen Einschränkungen problematisch, und fehlende Therapieangebote sind nur eine Barriere, wenn sie benötigt würden. Andere Barrieren sind jedoch weniger leicht zu benennen, weil sie nicht direkt beobachtet werden können, sondern sich aus Einstellungen und Handlungen anderer Personen ergeben. Das schweizerische Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG, SR 151.3) schreibt vor, dass Menschen mit einer Behinderung nicht benachteiligt werden dürfen (Artikel 1) und dass Kinder mit Behinderungen eine Grundschulung erhalten sollen, die ihren besonderen Bedürfnissen angepasst ist (Artikel 20). Doch wie genau sollen Lehrpersonen ihren Unterricht gestalten, damit dies sichergestellt wird? Hier gibt es keine einfachen Anpassungen oder standardisierte Lösungen; im Zentrum steht die Frage, wie weit die Lehrperson ihre Handlungsmöglichkeiten wahrnimmt und sie auf die Situation der Schülerinnen und Schüler abstimmen kann.
Lehrpersonen selbst sind Umweltfaktor
Es ist eine ungewohnte Perspektive; aber auch die Lehrperson selbst ist ein Umweltfaktor, der als Förderfaktor oder als Barriere wirken kann. Geht eine Lehrerin davon aus, dass ein Kind mit Down-Syndrom nie lesen und schreiben lernen wird, wird sich dies in der Unterrichtsorganisation und in der geleisteten Unterstützung zeigen. Weil Kinder sich entwickeln und in der Schule neue Kompetenzen aufgebaut werden, hat die Lehrperson nicht nur einen Einfluss auf die gegenwärtige, sondern auch auf die zukünftige Funktionsfähigkeit. Und hier genau setzt die Professionalität der Lehrperson an. Ihre Aufgabe ist es, gegenwärtige (Unterrichts-)Situationen so zu gestalten, dass dadurch Partizipation ermöglicht wird. Was wir von anderen Menschen halten und was wir ihnen zugestehen, ist einerseits Privatsache, auch für Lehrerinnen und Lehrer. Andererseits sind für die Berufsausübung relevante unreflektierte Vorurteile nicht mit professionellem Handeln vereinbar. Entsprechend müssen Lehrpersonen die berufsrelevanten Kompetenzen entwickeln, damit sie ihre Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen können. → Siehe auch Beitrag von Luder, Kunz und Müller Bösch. Auf Fragen wie «Wo überfordere ich ein Kind, wo unterschätze ich es?», «Wo schließe ich Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten aus, obwohl die Zukunft immer ungewiss ist?» müssen mit der Unterstützung von weiteren Fachpersonen Antworten gefunden werden. → Siehe auch Beitrag von Luder und Kunz.
Personbezogene Faktoren
«Personbezogene Faktoren sind der spezielle Hintergrund des Lebens und der Lebensführung eines Menschen und umfassen Gegebenheiten des Menschen, die nicht Teil ihres Gesundheitsproblems oder -zustands sind» (WHO, 2011, S. 45). Gemeint sind hier Faktoren wie Geschlecht, Alter, Lebensstil oder sozialer Hintergrund sowie «allgemeine Verhaltensmuster und Charakter» (ebd.). Die personbezogenen Faktoren sind zwar Teil des ICF-Modells, sie sind aber nicht in der ICF klassifiziert. Dies hat damit zu tun, dass je nach Gesundheitsproblem die Abgrenzung zwischen Behinderungen und personbezogenen Faktoren unterschiedlich eingeschätzt wird. Zum Beispiel werden Probleme mit sozialen Interaktionen als Teil der eingeschränkten Aktivitäten bei einem Asperger-Syndrom verstanden. Die damit verbundene soziale Zurückgezogenheit wird somit als Teil der Funktionseinschränkung verstanden. Wird als primäres Gesundheitsproblem jedoch die durch Retinitis Pigmentosa verursachte Schädigung der Sehfunktionen betrachtet, dann wird man dazu tendieren, die soziale Zurückgezogenheit als eine Charaktereigenschaft (Introversion) zu beurteilen. Was als Lebenshintergrund und was als Teil der Funktionsfähigkeit und Behinderung erachtet wird, ist deshalb nicht unabhängig von der Situation des betroffenen Menschen zu unterscheiden.
Ein weiterer Grund, weshalb die WHO bisher keine Klassifikation zu den personbezogenen Faktoren entwickelt hat, liegt in der unterschiedlichen Einschätzung dieser Faktoren in verschiedenen Kulturkreisen. Aufmüpfiges Verhalten von Mädchen wird in egalitären Kulturen toleriert, in patriarchalischen Kulturen jedoch pathologisiert und unterdrückt. Was in stark individualisierten Gesellschaften als Selbstbehauptung und Durchsetzungsfähigkeit gefördert wird, gilt in kollektiven Gesellschaften als egoistisch und antisozial. Was als personbezogene Faktoren identifiziert wird und wie diese eingeschätzt werden, hängt also stark von der sozialen Umwelt, den vorherrschenden Einstellungen und Erwartungen ab. Auch im Alltag lassen sich bei anderen Menschen festgestellte und als besonders wichtig identifizierte Eigenschaften letztlich nicht von der beurteilenden Person trennen. Ob eine Lehrperson sich durch das Clownverhalten eines Kindes gestört fühlt oder ob sie dieses lustig und kreativ findet, hat vor allem mit der Lehrperson selbst zu tun. Auch Erwartungen der Lehrpersonen werden von personbezogenen Faktoren der Schülerinnen und Schüler beeinflusst. Vor allem die Bedeutung des Geschlechts und der sozialen Herkunft wird in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnt. Weil es immer andere Menschen braucht, um personbezogene Faktoren festzustellen, lassen sich letztlich Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren nicht wirklich voneinander trennen.
Lehrpersonen können Situationen verändern
Diesen Einfluss und die Zusammenhänge zu kennen und zu verstehen, ist wichtig; aber noch wichtiger ist es, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und entsprechend zu handeln. Behinderungen existieren nicht unabhängig von Situationen, in denen sie sich zeigen. In Situationen kommen bestimmte Bedingungen und bestimmte Anforderungen zusammen, und diese können verändert werden. Und genau hier setzen die Handlungsmöglichkeiten von Lehrpersonen an: Es geht für sie primär darum, Situationen so zu verändern, dass die gestellten Anforderungen besser bewältigt werden können. Zum Beispiel erhält ein blindes Kind einen Text digital und kann ihn so mit seiner Software für Sprachausgaben hören statt lesen. Die Anforderung, den Inhalt eines bestimmten Texts zu verstehen, wurde nicht verändert, nur die Situation, in der diese Anforderung gestellt wird. Als zweite Möglichkeit können auch die Anforderungen verändert werden, etwa durch Unterstützung beim Bewältigen einer Aufgabe oder mittels einfacherer Aufgaben. Zu beurteilen, ob die Situation, die Anforderungen oder beides zu ändern sei, ist alles andere als einfach. Hier setzt die Beratung durch entsprechende Fachleute an. Notwendige Anpassungen möglichst entwicklungs- und lernfördernd einzusetzen, ist die Aufgabe der Lehrperson und weiterer zentraler Bezugspersonen. Wie die ICF helfen kann, Situationen besser zu verstehen als Grundlage für professionelles Handeln, soll im nächsten Abschnitt dargelegt werden.
Situationen verstehen
Meist unterschätzen wir den Einfluss von Situationen auf das Verhalten des Gegenübers (Argyle, Furnham & Graham, 1981); dieses wird viel eher als Ausdruck der Persönlichkeit oder ihrer Eigenschaften und weniger als situativ bedingt verstanden. Es fehlt uns die kontinuierliche Selbsterfahrung des anderen in den unterschiedlichsten Situationen und deshalb das Erleben der situativen Abhängigkeit von Verhalten oder Fähigkeiten. Das zeigt sich auch in unserer Sprache: Sarah ist schwerhörig, Tobias hat ein ADHS, und Ivana kann kein Deutsch. Weil uns die direkte Erfahrung des Gegenübers quer durch verschiedene Lebenssituationen fehlt, müssen sich Lehrpersonen bewusst und aktiv um das entsprechende Wissen bemühen. Dafür müssen die jeweils relevanten Elemente aus einzelnen Situationen extrahiert und miteinander verglichen werden. So können die spezifischen Bedingungen, unter welchen Sarah genug hört, Tobias seine Impulsivität kontrollieren und Ivana eine Geschichte verstehen kann, besser erfasst und wo immer möglich für die Planung und Durchführung des Unterrichts genutzt werden.
Partizipation
Beispiel: Eine Geschichte erzählen
Situationen