Inklusive Pädagogik und Didaktik (E-Book, Neuauflage). Reto Luder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reto Luder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783035517071
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oder dauerhaft vom Besuch der Schule ausgeschlossen, während andere während oder nach der Unterrichtszeit schulinterne Therapieangebote für Logopädie oder Psychomotorik besuchen. Wieder andere nehmen zusätzlich zu oder gänzlich unabhängig von pädagogisch-therapeutischen Interventionen «Nachteilsausgleiche» für spezifische Funktionsbeeinträchtigungen in Anspruch, beispielsweise in Form einer Verlängerung der Bearbeitungszeit oder technischer Modifikationen bei Prüfungen.

      Behinderung

      Begrifflichkeiten und Handlungsgrundsätze politisch reguliert

      In diesem Sinne wird Behinderung als Phänomen, als etwas also, was «sich zeigt», im Kontext Schule als «schulische Behinderung» sichtbar. Da die verwendeten Begriffe und Kategorien sowie die zugehörigen Dienste und Handlungsgrundsätze durch die jeweils zuständigen politischen Instanzen festgelegt werden, gelten Begriffe, Kategorien, Dienste und Handlungsgrundsätze innerhalb der politisch-regulatorischen Grenzen von Schulsystemen. Gleiches gilt für die verfügbaren Ressourcen, die genauen Prozeduren für deren Vergabe sowie für die Prozeduren zur Zuweisung von «Förderorten». Je nachdem, auf welcher politischen Ebene ein Sachverhalt reguliert wird, kann er in der nächsten Gemeinde, im benachbarten Kanton, Bundesland oder eben im Nachbarstaat anders ausgestaltet sein. Begriffe, Kategorien, Dienste und Handlungsgrundsätze werden durch Wissenschaft und Öffentlichkeit kritisch hinterfragt, sie verändern sich über die Zeit, vermittelt über politische Prozesse, und sind damit stets Ausdruck des aktuellen Standes der Institutionalisierung schulischer Behinderung.

      Begriffe bezeichnen schulspezifische Formen der Bearbeitung von Behinderung

      Viele der aktuell gebräuchlichen Begriffe werden alltagssprachlich nicht oder nicht direkt mit Behinderung in Zusammenhang gebracht. Die Ausführungen von Hollenweger zur ICF (nachfolgender Beitrag) verdeutlichen aber, dass diese Begriffe schulsystemspezifische Formen der Bearbeitung von Behinderung und der Einflussnahme auf Funktionsfähigkeit und Performanz in der Schule im Sinn der ICF bezeichnen.

      Bewertung und Prestige von Maßnahmen und Förderorten

      Ferner wird deutlich, weshalb unterschiedliche Maßnahmen, Status und Förderorte sowohl von Betroffenen und deren Eltern als auch von wissenschaftlichen und politischen Akteuren sehr unterschiedlich bewertet werden. Eine wöchentliche psychomotorische Therapielektion oder individuell vereinbarte Nachteilsausgleiche für die Beeinträchtigung spezifischer Seh- oder Aufmerksamkeitsfunktionen sind sozial anders konnotiert und haben andere Folgen für Betroffene als beispielsweise der langjährige Besuch einer Klasse oder Schule für Jugendliche oder Kinder mit «Problemverhalten» (ausführlich: Tomlinson, 2017).

      Schulische Behinderung ist anforderungsbasiert, kategorial und fluid

      Systemspezifität von schulischen Behinderungsstatus

      Schulsysteme weisen spezifische Anforderungsstrukturen, spezifische Hierarchien von Fähigkeiten und damit spezifische Person-Umwelt-Verhältnisse auf. Die Anforderungsstrukturen, Ziele und Förderstrategien von Pflichtschulsystemen sind im Kern auf schulisch relevante Formen der «Performanz» (ICF) hin orientiert. Aus diesem Grund haben moderne Pflichtschulsysteme spezifische Behinderungsstatus hervorgebracht. «Sonderpädagogischer Förderbedarf» oder «individuelle Lernziele» können Menschen nur in ihrer Rolle als Schülerin und Schüler zugeschrieben werden – nicht aber Verkehrsteilnehmenden, Frührentnerinnen oder Personen, die ein barrierefreies Hotelzimmer buchen möchten. Umgekehrt gelten viele junge Menschen als «Menschen mit Behinderung» im Sinne des Sozial- oder Antidiskriminierungsrechts, ohne jemals in Schulsystemen als sonderpädagogisch förderbedürftig klassifiziert zu werden. Die verbreitete Annahme, es existiere eine stabile, klar identifizierbare Gruppe von Menschen mit Behinderung und diese Menschen würden in Schulsystemen eben sonderpädagogisch gefördert oder hätten allesamt einen schulischen Behinderungsstatus, ist unzutreffend.

      Elemente der Institution «schulische Behinderung»

      Um die Besonderheiten des Verhältnisses von Schulsystemen und Behinderung verstehen zu können, ist es vielmehr notwendig, mit Powell (2013) von einer eigenständigen – was nicht bedeutet: von anderen Systemen völlig losgelösten – Institution schulischer Behinderung auszugehen. Die Institution der schulischen Behinderung ist gekennzeichnet und getragen durch spezifische politische Diskurse. Hieraus entstanden Rechtsetzungen wie Lehrpläne, Bedarfsfeststellungs- und Zuweisungsreglemente oder Promotionsverordnungen, durch spezifische Professionen und deren Interessen, spezifische Begrifflichkeiten, Überzeugungen, Organisationsformen, Maßnahmentypen, implizite und explizite Normalitätsvorstellungen, Klassifizierungssysteme und Kategorisierungsprozesse.

      Im nachfolgenden Beitrag legt Hollenweger dar, dass die ICF Behinderung und Funktionsfähigkeit als situiertes Kontinuum versteht, und sie zeigt auf, wie Professionelle ein kontinuierliches Verständnis von Behinderung pädagogisch fruchtbar machen können. Ähnlich argumentiert Weisser (2010, S. 6, Hervorh. im Orig.), wenn er festhält, es handle sich im Falle von Situationen der Behinderung «um Fähigkeitskonflikte als Konflikte zwischen dem, was (für jemanden) gerade möglich [ist], und dem, was gerade gefordert wird». Mit anderen Worten: Fähigkeitskonflikte sind nicht durch Behinderungen (mit-)determiniert, sie sind Behinderung.

      Realität schulischer Anforderungsstrukturen

      Die Frage, wo genau denn nun Funktionsfähigkeit endet und Behinderung beginnt, lässt sich mithin nur vor dem Hintergrund je gegebener Umwelten beantworten. Deren implizite und explizite Anforderungsstrukturen, so der Soziologe Kastl (2010, S. 126), «müssen und können […] auf ihre soziale Bedeutung und Änderbarkeit hin befragt werden», sind jedoch «so real wie Kaffeemaschinen» (ebd.). Wer sich vergewissern möchte, wie real allein die expliziten Anforderungsstrukturen von Bildungssystemen sind, wird in der baulichen Struktur und der Infrastruktur von Schulgebäuden ebenso fündig wie in Lehrplänen, Lehrmitteln, Testverfahren, in Beschreibungen von Performanz- oder Kompetenzstandards für fachliche und überfachliche Fähigkeiten, in Beobachtungsinstrumenten zuhanden von Lehrpersonen oder in Schul- und Klassenregeln.

      So wird zum Beispiel eine psychodiagnostische Kategorie wie «Lese-/Rechtschreibstörung» nur im Kontext eines Schulsystems relevant, das spezifische Anforderungen an die Fähigkeit des Lesens und Schreibens richtet und Ressourcen für deren Diagnose und Förderung zur Verfügung stellt. Diese Anforderungen sind in Lehrplänen recht genau festgeschrieben, werden regelmäßig erfasst und bewertet und können auch mittels Tests diagnostisch überprüft werden. Weicht die Performanz einer Schülerin in einem definierten Ausmaß von diesen Anforderungen ab, können Angehörige einer hierzu ermächtigten Profession (Schulpsychologie, Logopädie, Medizin oder Heil-/Sonderpädagogik) möglicherweise eine Lese-/Rechtschreibstörung diagnostizieren, einen entsprechenden besonderen Förderbedarf feststellen und damit bewirken, dass die Schülerin oder der Schüler von Fachpersonen gefördert wird. Verlässt die Schülerin aber das Schulzimmer und spielt mit Freunden im Wald, dann ist sie dabei in keiner Weise eingeschränkt oder behindert. Und wenn ihre schulische Performanz nicht mehr von Mindestanforderungen abweicht, dann endet grundsätzlich auch ihre besondere pädagogische Förderung in einem (hypothetischen) «Förderschwerpunkt Lesen und Schreiben».

      Kategoriale Organisation von schulischen Behinderungsstatus

      Das Beispiel zeigt noch ein weiteres Charakteristikum schulischer Behinderungsstatus auf: Sie sind fast immer kategorial organisiert. Selbst wenn Lehrpersonen Behinderung und Performanz als etwas Situiertes und Kontinuierliches verstehen, so erfordert die administrative Logik für die Feststellung besonderer Bedarfe doch in der Regel eine Transformation in eine Ja-nein-Entscheidung. Eine Schülerin «hat» nach einer vorgegebenen Bedarfsfeststellungsprozedur einen formellen Förderstatus oder Nachteilsausgleich – oder sie «hat» ihn eben nicht. Ist ihre Performanz im Lesen und Schreiben zwar deutlich beeinträchtigt, weicht aber gerade nicht so weit von Mindeststandards ab, wie dies für die Erlangung eines schulischen Behinderungsstatus erforderlich ist, dann bleibt es bei der «normalen» Förderung, es wird kein Nachteilsausgleich gewährt und so weiter.

      Probleme von kategorialen Status

      Kategoriale Behinderungsstatus sind Grundlage für die Sicherung