Im Anschluss an das in der Einleitung dieses Abschnitts Gesagte bedeutet die Annahme besonderer pädagogischer Bedürfnisse die Konstruktion einer Diversitätsdimension mit einem dazugehörenden Schwellenwert. Unterhalb dieses Schwellenwerts wird ein Bedürfnis als üblich, oberhalb des Schwellenwerts als besonders eingeschätzt. Beispielsweise ist es in der Situation eines Lehrervortrags ein übliches Bedürfnis von Schülerinnen und Schülern, dass die Lehrperson angemessen laut und deutlich spricht, damit sie verstanden wird. Ein Kind mit einer Hörbehinderung hat in dieser Situation besondere Bedürfnisse und ist beispielsweise auf den Blickkontakt mit der Lehrperson oder auch auf die elektronische Verstärkung der Stimme der Lehrperson angewiesen. Ein Kind mit Lese-/Rechtschreibstörung benötigt in Situationen, in denen Lesen oder Schreiben eine Rolle spielt, besondere, üblicherweise nicht notwendige Unterstützung und Förderung, um seine Ziele erreichen zu können.
Welche Diversitätsdimensionen in der Schule in welchen Situationen wichtig sind und wie bedeutsam sie sein sollen, ist nicht per se gegeben, sondern Gegenstand gesellschaftlicher und bildungspolitischer Wahrnehmungs- und Aushandlungsprozesse. → Siehe auch Beitrag von Felkendorff und Luder. Das Gleiche trifft für den jeweiligen Schwellenwert zu, oberhalb dessen bestimmte Bedürfnisse als besonders wahrgenommen werden. Dieser Schwellenwert ist nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit den jeweils verfügbaren Ressourcen für Unterstützung und Förderung zu sehen.
Aus einer Betrachtungsweise, die sich nur auf Defizite von Schülerinnen und Schülern bezieht, lassen sich keine Handlungsmöglichkeiten für den konkreten Unterricht oder Maßnahmen für eine Förderung ableiten, denn diese Maßnahmen sind stark situationsabhängig. Dazu braucht es die Analyse von konkreten Situationen, in denen Schülerinnen und Schüler aufgrund verschiedener Faktoren in ihren Aktivitäten und an ihrer Partizipation eingeschränkt sind. → Siehe auch Beitrag von Hollenweger. Durch eine inklusive Didaktik und durch die Einbeziehung spezifischer individueller Maßnahmen kann die Partizipation in der Situation gestärkt werden. → Siehe auch Beitrag von Müller Bösch und Schaffner Menn. Die Lehrpersonen brauchen hierfür – neben differenziertem Wissen um mögliche Schwierigkeiten – Wissen um situationsbedingte Faktoren, welche die Partizipation stärken können. Spezifische pädagogische Interventionen richten sich auf Schülerinnen und Schüler in einer bestimmten Situation. In einer Unterrichtssituation zum Beispiel, in der die Lehrperson an der Wandtafel eine neue Arbeitsweise einführt, werden andere Interventionen erforderlich als in einer Situation, in der in einer Gruppe kooperatives Lernen gefordert ist. Die Situationen und dadurch auch die besonderen pädagogischen Bedürfnisse sind im Unterricht in einem stetigen Wandel. Die Lehrperson ist gefordert, diesem Wandel durch adaptive Unterrichtskompetenz nachzugehen und ihre Unterstützung und Lernbegleitung den Situationen anzupassen.
Im Unterricht für alle gibt es unterschiedliche Situationen, die differenzielle Maßnahmen erfordern können. Ziel dieser Maßnahmen ist die Partizipation und Teilhabe aller Lernenden an der aktiven Auseinandersetzung mit den Bildungsinhalten im sozialen Netz der Klasse. Alle Lernenden sollen dabei ihren Voraussetzungen entsprechend gefördert werden.
Dieses oben beschriebene Verständnis lässt sich wissenschaftlich als bio-psycho-soziales Modell bezeichnen. → Siehe auch Beitrag von Hollenweger. Gesundheit (oder auch Behinderung) ist in diesem Modell ein funktional definiertes Phänomen, das sich nur im Zusammenspiel biologischer, psychologischer oder gesellschaftlicher Faktoren verstehen lässt.
Definition Behinderung
Behinderung ist eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit auf biologischer, psychologischer oder sozialer Ebene, in einem oder mehreren Lebensbereichen, so wie sie von einem Individuum mit einem Gesundheitsproblem in Interaktion mit seiner Umwelt erlebt wird (vgl. Leonardi et al., 2006).
Für die Analyse schulischer Situationen folgen aus diesem Verständnis drei wichtige Prämissen:
1. Funktionsfähigkeit und Behinderung sind konzeptuell zu trennen von Krankheiten und Störungen.
2. Ein mehrdimensionales Verständnis von Funktionsfähigkeit und Behinderung ist einer eindimensionalen (= kategorialen) Umschreibung von Behinderungen vorzuziehen.
3. Funktionsfähigkeit und Behinderung sind nur im Kontext spezifischer Lebensumstände definierbar.
Nach einem solchen Verständnis haben Lehrpersonen und die Schule als Institution einen zentralen Anteil an der Lernsituation aller Schülerinnen und Schüler und damit auch bei Kindern und Jugendlichen mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen. Lehrpersonen agieren (a) als Partizipationspartner der Kinder und Jugendlichen, (b) als Umweltfaktor und Umweltgestalter der Lernprozesse im Unterricht und der Schule und natürlich auch (c) als Individuum mit eigener Funktionsfähigkeit. Bei der Planung von Förderung in der Schule sind diese Anteile am Lernprozess der Schülerinnen und Schüler wichtig.
Praktisches Handeln als gemeinsame Aktivität
Förderung aller Kinder, eben auch von Kindern mit SEN, kann im Begriffsverständnis der Aktivitätstheorie (vgl. AT der dritten Generation: z. B. Engeström, 1987, 1999) als Tätigkeit aufgefasst werden. Das Motiv für die besondere Förderung eines Kindes ist ein pädagogisches, indem nämlich die Reduktion von Differenz in den an Schulen relevanten Diversitätsdimensionen angestrebt wird wie zum Beispiel die Möglichkeit, Texte zu lesen, zu verstehen und selbst auch produzieren zu können. Die umfassende Tätigkeit «Förderung» unterteilt sich in einzelne Handlungen (z. B. die Planung von unterschiedlichen Fördermaßnahmen während eines Schuljahrs), die durch gemeinsam verantwortete Ziele im Förderteam gesteuert werden. Diese Handlungen wiederum unterteilen sich in einzelne Operationen (zum Beispiel konkrete Leseförderungstrainings durchführen, Rechtschreibprogramme anleiten, die Arbeit der Kinder damit begleiten), die sich aus instrumentellen Bedingungen ergeben. Dabei stellt die Tätigkeit «Förderung» eine kollektive Tätigkeit dar (zum Beispiel durch mehrere Personen, die ihre je individuell ausgeführten Handlungen jeweils auf die Ziele ausrichten).
Eine inklusive Schule ist angewiesen auf spezifische, professionelle sonderpädagogische Förder- und Unterstützungsangebote. Die Abschaffung einer disziplinären Sonderpädagogik zugunsten einer Pädagogik der Vielfalt würde bedeuten, dass es den Lehrpersonen allein obliegt, über diese Wissensbestände und dieses praktische Können zu verfügen und Wissen und Können weiterzuentwickeln. Es dürfte sehr schwierig sein, angehende Lehrpersonen im Rahmen ihrer allgemeinen Ausbildung zusätzlich auch noch auf diese Aufgabe vorzubereiten, das heißt neben ihrer anspruchsvollen Unterrichtspraxis von ihnen auch noch die spezifische sonderpädagogische Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen zu fordern. Wenn das aber nicht gelingt, ist das Ergebnis ein substanzieller Verlust von Wissen und Praxiskönnen und damit ein massiver Verlust an gezielter Förderung für die betroffenen Kinder. Inklusive Förderung und Unterstützung gelingt nur in Anbindung an eine entsprechende Praxis und im damit verbundenen Austausch von Praxiswissen mit weiteren Personen. Dazu braucht es spezialisierte Netzwerke, Ausbildungsgänge und Weiterbildungsangebote von und für Spezialistinnen und Spezialisten. Notwendig ist deshalb eine Klärung der Aufgaben, Kompetenzen und gegenseitigen Pflichten zwischen spezifisch ausgebildeten Fachpersonen mit spezifischem Wissen und entsprechender Praxis einerseits und Klassenlehrpersonen andererseits.
Pädagogisch-therapeutische Fachperson (PTF)
— Pädagogisch-therapeutische Fachpersonen (PTF) im Bereich Sonderpädagogik, Therapie usw. verfügen über das fachliche Wissen und Können in Bezug auf die diagnostische Erfassung von Lern- und Verhaltensvoraussetzungen und die Entwicklung individuell angepasster, pädagogisch-therapeutischer Förderziele, Fördermaßnahmen und Unterrichtsmaterialien. Sie arbeiten aktiv mit den Regelschullehrpersonen im gemeinsamen Unterricht zusammen. Sie unterstützen und fördern Schülerinnen und Schüler mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen in Bezug auf individuelle Lern- und Entwicklungsziele.
Lehrperson
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