Inklusive Pädagogik und Didaktik (E-Book, Neuauflage). Reto Luder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reto Luder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783035517071
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im Klassenzimmer dem Unterrichtsgeschehen folgen) betrachtet werden. «Behinderung» wird also nicht mit einer vorliegenden Schädigung der Körperfunktionen (Sehfunktionen) oder der Körperstrukturen (Retina) gleichgesetzt, auch die Fähigkeiten der Person (zuschauen, lesen) und ihre Beteiligung an verschiedenen Lebenssituationen (Schulweg bewältigen, sich am Unterricht beteiligen) werden berücksichtigt. Das ist besonders wichtig, wenn es darum geht, Schwierigkeiten bei der Beteiligung in der Schule zu verstehen; denn nicht alle Schwierigkeiten ergeben sich zwingend aus einer bestimmten Schädigung.

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      ABBILDUNG 1: Modell der ICF und der ICF-CY (nach WHO, 2011)

      Das Modell der ICF (siehe Abbildung 1) berücksichtigt dieses bio-psychosoziale Verständnis, indem es Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation als drei getrennte, aber zueinander in Beziehung stehende Konstrukte definiert. → Siehe Beitrag von Felkendorff und Luder. Sie alle können von einem vorliegenden Gesundheitsproblem, aber auch von den Kontextfaktoren (Umweltfaktoren, personbezogene Faktoren) beeinflusst werden und umgekehrt. Mit Gesundheitsproblem sind Krankheiten oder Störungen gemeint, wie sie in der internationalen Klassifikation der Krankheiten erfasst werden. Down-Syndrom, Autismus oder Zerebralparese werden als solche Gesundheitsprobleme verstanden. Umweltfaktoren sind äußere Einflüsse, während personbezogene Faktoren als der betroffenen Person immanent oder zugehörig verstanden werden, wie etwa das Alter oder das Geschlecht (vgl. ICF, Kapitel 3 und 6). Der Begriff «Behinderung» selbst taucht im Modell nicht auf, weil Behinderung als das Ergebnis dieser komplexen Interaktion verstanden wird.

      Kontinuum zwischen Funktionsfähigkeit und Behinderung

      In der ICF wird Funktionsfähigkeit und Behinderung als Kontinuum verstanden, auf dem alle Menschen sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben befinden. Alle Menschen erleben Gesundheitsprobleme, und wer lange genug lebt, wird früher oder später mit Einschränkungen der Funktionsfähigkeit konfrontiert. Deshalb ist die Sprache der ICF universell, sie beschreibt Dimensionen der Funktionsfähigkeit, die für alle Menschen relevant sind. Wenn sich alle auf einem Kontinuum zwischen Funktionsfähigkeit und Behinderung verorten können, gibt es auch keine eindeutige Trennung zwischen behindert und nicht behindert. Ist ein Kind extrem introvertiert, oder ist es autistisch? Ist es expansiv und dominant, oder ist es aggressiv und verhaltensgestört? Ist es verträumt und mehr an Fußball statt an Mathematik interessiert, oder ist es lernbehindert? Ist es einfach schlecht in der Rechtschreibung, oder hat es eine Lese-/Rechtschreibstörung? Entscheidungen in die eine oder andere Richtung werden nach bestimmten Kriterien und mit bestimmten Absichten getroffen, diese können auch von Fachperson zu Fachperson unterschiedlich sein.

      ICF als universelle Sprache zur Unterstützung der interdisziplinären Zusammenarbeit bei der Förderplanung

      Die universelle Sprache der ICF erleichtert die interdisziplinäre Zusammenarbeit, weil sie nicht ausschließlich auf medizinische, psychologische oder soziale Probleme fokussiert, sondern diese in einer gemeinsamen Systematik erfasst. Augenärztin, Regellehrperson und schulische Heilpädagogin haben je eine spezifische Sicht auf die Situation des Kindes und konzentrieren sich auf diejenigen Aspekte der Behinderung, die primär mit ihrem Wissen und ihren Aufgaben in Zusammenhang stehen. Wenn sie sich auf die ICF und die ICF-CY als gemeinsame Sprache verständigen, können sie ihre Beobachtungen und Überlegungen gemeinsam verorten und integrieren. Nicht nur für eine umfassendere und differenziertere Beschreibung von Behinderungen ist das bio-psychosoziale Modell der ICF hilfreich, sondern auch für das Planen von Maßnahmen. Die Handlungsmöglichkeiten der verschiedenen Fachpersonen sowie der Eltern und des Kindes können so bei der Umsetzung von gemeinsam vereinbarten Zielen koordiniert werden.

      Partizipation

      Für das Handeln von Lehrpersonen besonders wichtig ist, dass die ICF nicht die Eigenschaften von Personen ins Zentrum stellt, sondern die Lebenssituationen, in denen Menschen sich befinden. Dadurch wird eine Perspektive gewählt, die Lehrpersonen Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Niemand kann die Eigenschaften einer anderen Person ändern, aber auf Situationen haben alle Beteiligten einen Einfluss. Durch die Veränderung unseres Handelns können wir Situationen verändern und die Umwelt so gestalten, dass Lernen unterstützt und gefördert wird. Das Konstrukt der Partizipation ist deshalb für Lehrpersonen zentral. Je besser Lehrpersonen verstehen, welche Faktoren die Partizipation in der jeweiligen Situation wie beeinflussen, desto eher werden sie den Unterricht optimal gestalten können. Statt sich auf nicht veränderbare Schädigungen, bestimmte Eigenschaften oder Dispositionen zu konzentrieren, wird der Blick auf das gelenkt, was verändert werden kann. Im Folgenden sollen die Grundlagen dargestellt werden, die Lehrpersonen helfen, ihre Handlungsmöglichkeiten in konkreten Situationen vor dem Hintergrund von vorhandenen Behinderungen auszuloten und optimal zu nutzen.

      Funktionsfähigkeit und Behinderung

      ICF: Umweltfaktoren beeinflussen die Partizipation und Aktivitätsmöglichkeiten von Menschen

      Wie bereits erwähnt, erleben alle Menschen während ihres Lebens vorübergehende oder anhaltende Beeinträchtigungen ihrer Fähigkeit, an einem guten Leben teilzuhaben. Manchmal stehen Beziehungsprobleme im Vordergrund, manchmal fehlen die notwendigen Ressourcen, manchmal ist man krank, und manchmal ist man einfach müde und niedergeschlagen. Probleme gehören zum Leben, und wir alle müssen damit leben; Schülerinnen und Schülern geht es nicht anders. Oft stehen schwierige Lebenssituationen nicht im Zusammenhang mit Gesundheitsproblemen, sondern mit Krisen in der Familie, mit kritischen Lebensereignissen oder Problemen im schulischen Alltag. Verfügt ein Kind nicht über die erwarteten Kompetenzen, sollte zuerst gefragt werden, ob es genügend Gelegenheiten gehabt hatte, diese zu erwerben. Erst wenn mangelnde Gelegenheiten und andere Ursachen ausgeschlossen werden können, kann eine Behinderung in Betracht gezogen werden. Einige Kinder und Jugendliche sind aufgrund ihrer Lebenssituation oder kritischer Lebensereignisse, aufgrund ihrer Prädisposition oder eines Gesundheitsproblems besonders vulnerabel. Lange andauernde Einschränkungen der Funktionsfähigkeit können zu Behinderungen führen, dabei wirken alle Faktoren, die im ICF-Modell dargestellt sind, zusammen (siehe Abbildung 1). Um diese Dynamik zu verstehen, ist es wichtig, die verschiedenen Dimensionen von Funktionsfähigkeit und Behinderung zu kennen. Auf sie soll in diesem Abschnitt näher eingegangen werden.

      Komponenten von Funktionsfähigkeit und Behinderung

      Die Komponenten der Funktionsfähigkeit und Behinderung (Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation) stehen in einem komplexen Wechselspiel untereinander. Der Selbstorganisation und -regulation des Individuums kommt dabei eine hohe Bedeutung zu; die Beziehungen zwischen den Komponenten sind vielfältig. Mit der ICF werden komplexe Verursachungskonstellationen nicht einseitig auf Krankheiten reduziert, sondern in ihrer bio-psycho-sozialen Mehrdimensionalität erkundet. Die Komponente des Körpers besteht aus zwei Klassifikationen; eine erfasst die Funktionen der Körpersysteme und eine deren Strukturen: «Körperfunktionen sind die physiologischen Funktionen von Körpersystemen (einschließlich psychologischer Funktionen)»; «Körperstrukturen sind anatomische Teile des Körpers wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile» (WHO, 2011, S. 34). Mit dem Begriff «Schädigung» wird die Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder -struktur bezeichnet. Die Komponente der Aktivitäten und Partizipation umfasst alle Lebensbereiche, welche die verschiedenen Aspekte der Funktionsfähigkeit aus individueller respektive gesellschaftlicher Perspektive beschreiben: «Eine Aktivität ist die Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung (Aktion) durch einen Menschen.» «Partizipation [Teilhabe] ist das Einbezogensein in eine Lebenssituation.» «Beeinträchtigungen der Aktivität sind Schwierigkeiten, die ein Mensch haben kann, die Aktivität durchzuführen.» «Eine Beeinträchtigung der Partizipation [Teilhabe] ist ein Problem, das ein Mensch im Hinblick auf sein Einbezogensein in Lebenssituationen erleben kann.» (ebd.)

      1. Mentale Funktionen

      2.