Wie kommt in einer inklusiven Schule dieses spezifische Know-how für die Förderung in einem inklusiven Schulsystem den Kindern zugute, die es benötigen? Eine einzelne Lehrperson allein kann diesem Anspruch nicht genügen. Eine inklusive Schule erfordert die Zusammenarbeit eines multiprofessionellen Schulteams. Inter- und intradisziplinäre Zusammenarbeit von Lehrpersonen an der Regelschule und den pädagogisch-therapeutischen Fachpersonen erweist sich dabei als Arbeitsform, welche die Kompetenzen der Lehrpersonen verbessert (vgl. Baumert & Kunter, 2006) und zur Professionalisierung in den Bereichen inklusive Unterrichtsgestaltung und individuelle Förderplanung beiträgt (vgl. Luder et al., 2011). Dabei ist es wesentlich, die gemeinsame Praxis an gemeinsam formulierten Förderzielen auszurichten: «Die Freiheitsgrade der disziplinären Praxis sollen […] nicht verringert werden, die interdisziplinäre Ausrichtung der pädagogisch-therapeutischen Handlungen hingegen soll verstärkt werden» (Kunz, Gschwend & Luder, 2011, S. 21).
Professionelle Zusammenarbeit
Die professionelle Zusammenarbeit zwischen Klassenlehrperson (KLP) und pädagogisch-therapeutischen Fachpersonen (PTF) kann unterschiedlichste Formen annehmen (vgl. Kunz et al., 2012). Wenn ein Tandem oder Team, bestehend aus mindestens einer KLP und einer PTF, sich optimal ergänzt und aufeinander abgestimmt ist, dann kann von getrennten jeweiligen Zuständigkeiten und einer Überlappung von gemeinsam verantworteten Aufgaben gesprochen werden. Die Personen bleiben einerseits in ihren Funktionen mit klaren Aufgabenbereichen unabhängig und bringen andererseits ihre unterschiedlichen Kompetenzen im Unterricht ein. Beide Personen teilen sich die Verantwortung für das Gelingen schulischer Förderung.
Geht man von multiprofessionellen Lehrerteams aus, die in flexiblen Formen schulischer Arbeitsorganisation zusammenarbeiten, dann gibt es auch eine Reihe möglicher Kombinationen, nicht zwingend im Sinn von getrennten Zuständigkeiten. So kann das gesamte Team für eine bestimmte Fragestellung zuständig sein, die Aufgaben und Funktionen sind jeweils unterschiedlich und untereinander koordiniert. Aber auch hier bedingt dies eine klare Rollenaufteilung entlang der Kompetenzen einzelner Personen. Auf der Basis des Modells «getrennte Zuständigkeiten mit einer Schnittmenge» lassen sich diesbezüglich solche Absprachen spezifischer und gemeinsamer Aufgaben von Klassenlehrpersonen und pädagogisch-therapeutischen Fachpersonen bestimmen. In Tabelle 1 werden exemplarisch für die Bereiche Unterricht, individuelle Förderung und Förderplanung, Evaluation und Beurteilung sowie Zusammenarbeit und Koordination solche Aufgaben beschrieben, die auf Praxiserfahrungen und entsprechenden Empfehlungen beruhen (vgl. u. a. Ramírez Moreno, 2010; Bildungsdirektion des Kantons Zürich, 2011). Sie werden nicht als abschließende Zusammenstellung, sondern als mögliche Beispiele und Diskussionsgrundlage verstanden.
TABELLE 1: Aufgabenklärung für die Zusammenarbeit von Lehrpersonen und pädagogisch-therapeutischen Fachpersonen (schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, Therapeutinnen und Therapeuten) (in Anlehnung an Kunz & Gschwend, 2011)
Bereich | Zuständigkeit primär bei der Lehrperson | Schnittmenge: gemeinsame Zuständigkeit | Zuständigkeit primär bei der pädagogisch-therapeutischen Fachperson |
Unterricht | Gestaltung eines integrationsfähigen Unterrichts (innere Differenzierung und Individualisierung) | Individuelle Unterstützung und Förderung im gemeinsamen Unterricht (z. B. Teamteaching)Gemeinsame Unterrichts-reflexion und Unterrichts-entwicklung | Entwicklung individuell angepasster Förder- und UnterrichtsmaterialienGezielte Förderung und Unterstützung in Bezug auf individuelle Lern- und Entwicklungsziele |
Individuelle Förderung und Förderplanung | Erkennen von Lernschwierigkeiten und Entwicklungs-auffälligkeiten | Zielsetzung und Vereinbarung von Maßnahmen | Diagnostische Erfassung von Lern- und Entwicklungs-voraussetzungenCase Management / Verfassen individueller Förderpläne |
Evaluation und Beurteilung | Beurteilung aller Schülerinnen und Schüler in Bezug auf die Lehrplanziele | Prognostische Beurteilung und Laufbahnberatung | Diagnostische Erfassung von Lern- und Verhaltens-voraussetzungen (im Sinne pädagogischer Diagnostik / Verlaufsdiagnostik)Führungsrolle beim Verfassen individueller Lernberichte |
Zusammenarbeit und Koordination | Hauptansprechperson für die Eltern und Gesamtverantwortung für alle Schülerinnen und Schüler der Klasse | Zusammenarbeit mit Eltern und im Schulteam | Einbringen von fachlichem sonderpädagogischem Wissen, BeratungsangeboteKoordination der Zusammenarbeit mit externen Stellen |
Inklusive Sonderpädagogik – mit einem Widerspruch umgehen
Sonderpädagogik
Sonderpädagogik (englisch: special needs education) geht von besonderen Lern- und Lehrsituationen aus. Dies heißt, dass es daneben auch übliche, nicht besondere Lern- und Lehrsituationen gibt. Dieses Verständnis wird von Vertreterinnen und Vertretern einer Inklusionspädagogik (z. B. Wolfgang Jantzen, Ines Boban, Andreas Hinz) infrage gestellt. Sie argumentieren, dass die Schaffung einer Kategorie «besonderer» pädagogischer Bedürfnisse eine künstliche Abgrenzung ist. Dieser Argumentation folgend ist jedes Kind besonders und hat auch besondere pädagogische Bedürfnisse im Vergleich zu anderen Kindern. Eine besondere Pädagogik für eine bestimmte Gruppe von Kindern ist demzufolge nicht nur unnötig, sondern vor allem mit negativen Konsequenzen wie Stigmatisierung, systematischer Unterforderung und Diskriminierung verbunden. Einfacher formuliert: Wenn die allgemeine Pädagogik gut genug für alle Schülerinnen und Schüler ist, braucht es keine Sonderpädagogik.
Von sonderpädagogischer Seite her kann dagegen argumentiert werden, dass es pädagogische Bedürfnisse einzelner Kinder gibt, die das in der Praxis bestehende Schulsystem überfordern. Eine adäquate Förderung dieser Kinder erfordert spezielles Know-how, besondere Rahmenbedingungen oder spezifische Ressourcen, die üblicherweise in der Schule nicht zur Verfügung stehen und die für den größten Teil der Schülerinnen und Schüler auch nicht notwendig und nicht angemessen sind.
Mit der Gegenüberstellung dieser beiden Argumentationen ergeben sich zwei wesentliche Fragen für die Praxis:
1. Wie können «besondere» pädagogische Bedürfnisse definiert werden, und wie unterscheiden sich Schülerinnen und Schüler mit von solchen ohne besondere pädagogische Bedürfnisse?
— Eine mögliche Antwort auf diese erste Frage ergibt sich über einen bio-psycho-sozial definierten Behinderungsbegriff, wie zum Beispiel eine Begriffsdefinition auf der Basis der ICF. → Siehe auch Beitrag von Hollenweger.
2. Wie können Schülerinnen und Schüler mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen gefördert werden, ohne sie Nachteilen wie Stigmatisierung, Unterforderung oder Diskriminierung auszusetzen? In welchen Situationen brauchen einzelne Lernende bzw. einzelne Gruppen von Lernenden spezifische Anpassungen des Unterrichts? Wie können solche Situationen aussehen? Welche Handlungsmöglichkeiten haben Lehrpersonen, um in solchen Situationen ohne die genannten Nachteile intervenieren zu können?
— Eine mögliche Antwort auf die zweite Frage ist die inklusive Umsetzung sonderpädagogischer Förderung und das Lernen in Kooperation am gemeinsamen Gegenstand im inklusiven Unterricht der Regelschule. → Siehe auch Beitrag von Müller Bösch und Schaffner Menn.
Aufbau des Studienbuchs
ICF: Umweltfaktoren
Es geht in diesem Buch um besondere Situationen in der Schule, im Unterricht. Das Studienbuch unterstützt einen Unterricht für alle, ohne Ausschluss von Lernenden, und hat damit vor allem Maßnahmen in konkreten Unterrichtssituationen und damit auf der Mikroebene