Bei der Einschätzung der Funktionsfähigkeit und Behinderung ist es wichtig, sich auch zu deren personaler Situierung Überlegungen zu machen. Der personbezogene Faktor «Alter» ist für die Einschätzung von Funktionsfähigkeit von großer Bedeutung. Wie erwähnt, ist Impulsivität respektive fehlende Impulskontrolle normal für junge Kinder und kann bei vielen Kindern bis ins Kindergarten- und frühe Primarschulalter beobachtet werden, ohne dass dies als abweichendes Verhalten zu beurteilen ist. Gute Kenntnisse zur Entwicklung der verschiedenen Körperfunktionen und Aktivitäten sind deshalb von großer Bedeutung. Auch das Geschlecht kann die Funktionsfähigkeit beeinflussen, einerseits durch direkte biologische Mechanismen, andererseits vermittelt über soziale Erwartungen und Normen. Die soziale Herkunft ist deshalb mitunter von Bedeutung, weil bestimmte Verhaltensdispositionen in den familiären Interaktionsmustern stabilisiert werden. Wächst das Kind zum Beispiel in einer wenig verlässlichen Umwelt auf, in der, was heute gesagt wird, morgen möglicherweise keine Geltung mehr hat, hat das Kind wenig Anlass, seine Impulse und Bedürfnisse aufzuschieben, da sich morgen vielleicht schon keine Gelegenheit zu deren Befriedigung mehr bietet. Auch kann es sein, dass Kinder wegen einer Behinderung viele wichtige Lebenserfahrungen nicht machen konnten, etwa weil ihre Eltern sie vor schwierigen Situationen schützen wollten. Dies kann sich in mangelnder Konfliktfähigkeit oder sozialer Ängstlichkeit zeigen.
Die soziale Herkunft ist für Kinder gleichzeitig auch ihre Umwelt
Im Kindesalter sind die personbezogenen Faktoren als unterschiedliche Aspekte des Lebenshintergrundes zu verstehen und nicht als fixe Eigenschaften des Kindes. Veränderte Lebenssituationen haben einen Einfluss auf die dort erfassten Faktoren, sie können durch neue Erfahrungen verändert werden. Die soziale Herkunft ist für Kinder gleichzeitig auch ihre Umwelt. Das Kind bringt seine Lebenssituation mit in die Schule, so wie der Lebenshintergrund der Lehrpersonen ihre Arbeit beeinflusst. Liegen die verschiedenen Lebenslagen sehr weit auseinander, kann es schwierig sein, überhaupt gemeinsam an Situationen zu partizipieren. Durch intensive Elternarbeit ist es möglich, sich über die Lebenssituation des Kindes auszutauschen und gemeinsame Ziele und Maßnahmen zu vereinbaren, die gemäß den Möglichkeiten der verschiedenen Lebensräume (Schule, Elternhaus, Freizeit) umgesetzt werden können. Hier kann ein gutes situatives Verständnis der Lehrperson nicht nur bei der Gestaltung von Unterrichtssituationen helfen, sondern auch im Gespräch mit den Eltern. Die weiter oben geschilderten verschiedenen Analyse- und Handlungsmöglichkeiten (siehe Abbildung 7) können auch hier eingebracht werden.
Die ICF bietet keine detaillierten Analysedimensionen für das Verstehen individueller Lebenslagen. Soweit diese aber bekannt sind oder erkannt wurden, kann die ICF hilfreich sein für das Verstehen des Zusammenspiels zwischen diesen und der Funktionsfähigkeit des Kindes. Es kann ein besseres Verständnis gewonnen werden, wie sich die Funktionsfähigkeit und Behinderung bisher entwickelt hat, welche Aspekte einer Behinderung vermutlich wenig verändert werden können und mit welchen Anpassungen der Umwelt oder Anforderungssituationen das Kind am besten unterstützt werden kann. Gerade beim Einschätzen von längerfristigen Entwicklungen oder bei der Formulierung von alternativen Bildungszielen ist diese biografische Kontextualisierung sehr wichtig. So können Ziele formuliert werden, die auch erreicht werden können, und alle Beteiligten können sich auf das konzentrieren, was verändert werden kann, ohne die Aspekte auszublenden, die sich kaum beeinflussen lassen oder deren Beeinflussung nicht zum Auftrag der Schule gehört. So gelingt es Lehrpersonen besser, Dinge, die sie nicht ändern können, mit einer gewissen Gelassenheit hinzunehmen. Und hoffentlich entwickeln sie so mit der Zeit auch eine größere Sicherheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Literatur
Argyle, M., Furnham, A. & Graham, J. A. (1981). Social situations. Cambridge University Press.
Bless, G. (2007). Zur Wirksamkeit der Integration. Forschungsüberblick, praktische Umsetzung einer integrativen Schulform, Untersuchungen zum Lernfortschritt. Haupt.
Eckhart, M., Haeberlin, U., Sahli Lozano, C. & Blanc, P. (2011). Langzeitwirkungen der schulischen Integration. Eine empirische Studie zur Bedeutung von Integrationserfahrungen in der Schulzeit für die soziale und berufliche Situation im jungen Erwachsenenalter. Haupt.
Lewin, K. (2012). Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften. Huber.
WHO (2011). Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (ICF-CY). Huber.
Multiprofessionelle Zusammenarbeit für gemeinsame Förderplanung
André Kunz und Reto Luder
Schülerinnen und Schüler mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen, die durch das normale schulische Angebot in der Regelklasse nicht ausreichend gefördert werden können, brauchen zusätzliche Hilfe und Unterstützung. In einer inklusiven Schule bringt dies in der Praxis eine Reihe von Anpassungen und Änderungen mit sich: Grundsätzliche Konzepte müssen überprüft und gegebenenfalls neu ausgehandelt werden. Beispielsweise muss geklärt werden, in welchen Situationen sonderpädagogische Unterstützung und Förderung nötig ist und wie diese am besten aussehen soll. Eine Person allein kann diese Arbeit nicht leisten. Inklusion ist eine Teamaufgabe, für die verschiedene Fachpersonen zusammenarbeiten.
Förderplanung (IEP)
Inklusive Schulpraxis verlangt Kooperation auf Schul- und Unterrichtsebene
Integrative Förderung und Förderplanung für Schülerinnen und Schüler mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen, IEP für individual educational planning, ist eine komplexe Aufgabe, die zur Professionalisierung beiträgt, aber auch als belastend wahrgenommen wird (vgl. Maag Merki et al., 2010). Kummer Wyss (2010, S. 151) weist mit Blick auf eine inklusive Schulpraxis darauf hin, dass ein erfolgreicher Umgang mit Heterogenität intensive Kooperation auf Schul- und Unterrichtsebene erfordert. Auch Meijer (2005) zeigt auf, dass gelingende Zusammenarbeit ein wichtiger Faktor für eine angemessene Berücksichtigung der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler ist. Damit wird Kooperation in multiprofessionellen Teams aus Lehrpersonen, schulischer Heilpädagogik, Therapie (Logopädie oder Psychomotorik), schulpsychologischem Dienst, Schulleitung, Schulsozialarbeit, und anderen Akteuren zur wichtigen Gelingensbedingung für eine erfolgreiche integrative Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen (Kunz et al., 2013; Lütje-Klose & Urban, 2014; Urban & Lütje-Klose, 2014).
Eine professionelle interdisziplinäre Förderplanung folgt einem klaren Vorgehen und nutzt geeignete Instrumente und Verfahren, um die Grundlage für gelingende schulische Inklusion zu schaffen. Förderplanung wird dabei als kontinuierlicher Prozess verstanden, der diese nicht nur vorbereitet, sondern auch begleitet. Förderplanung ist vernetzt mit der Unterrichtsplanung und der Planung zusätzlicher Ressourcen, die für die Förderung eingesetzt werden.
Förderplanung als zielbezogener Prozess
Zu einer gelungenen Inklusion tragen eine sorgfältige Planung, eine kontrollierte Umsetzung sowie eine anschließende Evaluation der Förderung maßgeblich bei (vgl. Buholzer, 2014). Dazu müssen