Wieder war eine Atempause gewonnen. Wieder hatte sich gezeigt, dass der Zustand des Reiches mittlerweile so prekär war, dass sich jede Querele in seinem Inneren oder auch in der Nachbarschaft, irgendwo an seinen weit geschwungenen Grenzen, zum Flächenbrand auswachsen konnte. Wir werden noch sehen, dass Deutschlands Protestanten auch 1618 besorgt zum Rhein schauen werden, keinesfalls mit der gleichen Bangigkeit nach Prag.
1.4 Schon einmal vorab: etwas Kriegsursachenforschung
1.4.1 Warum die Ursachenforschung am Zustand des Reichsverbandes ansetzen muss
Dieses Studienbuch wird in Kapitel 5 rückblickend fragen, worum denn da dreißig Jahre lang Krieg geführt worden ist. Es wird immer wieder und resümierend in Kapitel 5 Kriegsschuld zumessen, nach Stolpersteinen auf dem Weg zum Frieden fragen. Aber weil wir auf den letzten Seiten ziemlich ausführlich die Vorgeschichte analysiert haben, dürfen wir doch schon jetzt erste Fragen nach dem Warum aufwerfen. Wagen wir erste Sondierungen, die noch nicht den weiteren Verlauf des Krieges umgreifen können, sondern um Vorkriegszeit und Kriegsausbruch kreisen!
Dass die evangelischen Residenzen, wie soeben schon erwähnt, im Sommer 1618 gar nicht angestrengt nach Prag starren werden, liegt auch daran, dass es dort im Osten um sehr eigene, eben spezifisch böhmische (und übrigens keinesfalls nur konfessionspolitische) Probleme geht. Auftakt zur ersten Phase des Dreißigjährigen Krieges, zum Böhmisch-Pfälzischen Krieg, ist der Prager Fenstersturz [<<53] (vgl. ausführlicher Kap. 2.1.2) – knapp gesagt versuchen im Mai 1618 einige Heißsporne unter den Ständeführern, den definitiven Bruch mit dem sich frühabsolutistisch gerierenden habsburgischen Regime zu erzwingen, indem sie zwei Exponenten schroffer Gegenreformation im Statthalterrat mitsamt ihrem Sekretär aus dem Fenster werfen. Alle drei überleben, aber es ist doch ein Mordanschlag auf Mitglieder der kaiserlichen Regierung, mithin ein recht gravierender Vorgang – aus Prager oder Wiener Warte.
Die böhmischen Querelen gehen Union und Liga eigentlich nichts an …
Was freilich hat das alles mit Deutschlands Protestanten und Katholiken, mit Union und Liga oder dem lädierten Reichsverband zu tun? Der Fenstersturz ereignete sich ja im Grenzsaum des Reiches, in einer Zone mit verdünnter Reichspräsenz – so wird der moderne Historiker die verwickelten staatsrechtlichen Befunde zusammenfassen. Akten des frühen 17. Jahrhunderts subsumieren Böhmen meistens gar nicht dem politischen Verband des Reiches. Als die böhmischen Aufständischen an die Hilfe der Auhausener appellierten, fanden diese im Staatsrecht nichts, was sie dazu hätte verpflichten können: Es sei nämlich (um aus dem Protokoll des Rothenburger Unionstags vom Herbst 1618 zu zitieren) „Bohemen dem reich nit underworffen“, urteilten sie. Die „unions Verfassung“ ziele „uf conservation der reichs Constitution“, Böhmen aber habe „aigene zunge, gesatzungen und ordnungen“. Es sei der Union „scopus uf ußländische nit gemeinet“. Tatsächlich war Böhmen, beispielsweise, nicht am Reichstag vertreten, nicht in die Kreisverfassung des Reiches einbezogen. Die einzige nennenswerte Klammer war diese: Der Böhmenkönig wählte das Reichsoberhaupt mit; an den anderen Aktivitäten des Kurkollegs beteiligte er sich hingegen nicht, er beschickte keine nichtwählenden Kollegialtage, war nicht im Kurverein.
Wir müssen solche staatsrechtlichen Sachverhalte aber gar nicht vertiefen, noch wichtiger ist nämlich dieser ganz eindeutige Befund: Hatten sich Union und Liga wegen des eskalierenden Auslegungsstreits um den Augsburger Religionsfrieden und zur Verteidigung ihrer eigenen, konfessionsspezifischen Lesarten des Texts von 1555 formiert, stritt man sich in Böhmen über einen anderen Text, ein Dokument von 1609 (namens „Majestätsbrief“ – wir werden ihn gleich kennenlernen). So gesehen gingen die Nöte der böhmischen Ständeführer die Union von Auhausen nichts an, und nichts die Nöte der Habsburger [<<54] in ihren Erbländern die katholische Liga – die beiden Konfessionsbündnisse hätten sich hierfür keinesfalls mobilisieren lassen müssen.
… aber die beiden Bündnisse lassen sich in den Konflikt hineinreißen
Aus Böhmen flog der sprichwörtliche Funken heran, der das Pulverfass zum Explodieren brachte. Seriöse Kriegsursachenforschung muss aber, um im Bild zu bleiben, an der explosiven Mischung ansetzen, die das Reich zum entzündbaren Pulverfass gemacht hat, nicht die Lunte inspizieren. Anstatt alle Kraft auf die Einhegung der regionalen böhmischen Querelen und die Abschirmung des Reiches von diesem Krisenherd zu verwenden, ließen sich die konfessionspolitischen Lager des polarisierten Reichsverbands sukzessive in die böhmischen Auseinandersetzungen hineinziehen.
Die Unionsfürsten sympathisieren eben 1618/19 nicht mit einem von seinen Untertanen bedrängten hochadeligen Standesgenossen, dem Habsburger. Sie sympathisieren vielmehr mit den aufbegehrenden Glaubensgenossen, und der Direktor der Union, Friedrich V. von der Pfalz, lässt sich von ihnen (wie wir ja schon wissen und noch genauer sehen werden) zum neuen Böhmenkönig wählen. Die darniederliegende Liga revitalisiert sich und kommt Ferdinand von Habsburg zu Hilfe – was kriegsentscheidend ist. Dass Friedrich von der Pfalz als frischgebackener Böhmenkönig nur einen Prager Winter erleben darf, entscheidet im November 1620, in der ersten berühmten Schlacht des Dreißigjährigen Krieges, ein Triumph der Ligatruppen. Der Direktor der Liga, Maximilian von Bayern, gibt persönlich den Schlachtruf aus – so hallen denn die Hänge des Weißen Berges am 8. November wider vom tausendfach ausgestoßenen „Maria, Maria, Sancta Maria“. Die geschlagenen Verteidigungstruppen unterstehen jenem Christian von Anhalt, den wir schon am Niederrhein antrafen. Die Anlässe waren zwar böhmisch. Aber die regionalen Querelen dieses Königreiches weiteten sich rasch zu Kämpfen zwischen Deutschlands Katholiken und Protestanten aus.
1.4.2 Kann die moderne Politik aus dem damaligen Desaster lernen?
Dass sich das Reich, nachdem es 1610 und 1614 zweimal (und nicht aus eigener Kraft!) um Haaresbreite an einem großen Krieg vorbeigeschrammt war, in die regionalen böhmischen Querelen hineinreißen [<<55] ließ, sagt etwas über den Zustand dieses politischen Systems aus. Der Reichsverband war nach 1555 eine Zeit lang unterwegs gewesen zu integrativer Verdichtung über weltanschauliche Gräben hinweg, aber am Ende relativierten nicht die systemimmanenten politischen Sachzwänge den konfessionellen Dissens, sondern das doppelte Wahrheitsmonopol schüttelte ihm nicht frommende Zwänge ab. Deren Sachlogik war indes unabweislich, das politische System wurde blockiert und trudelte dann in den dreißigjährigen deutschen Konfessionskrieg.
Der Versuch der Verrechtlichung des Wahrheitsdissenses ist damals gescheitert
Ist der Augsburger Religionsfrieden an allem schuld? Diese politische Friedenskonzeption eilte ihrer Zeit in mancherlei Hinsicht zu weit voraus. Ob sie gerade deshalb für die moderne Politik von Interesse sein kann? Verschiedene Dauerkonflikte, nicht nur der im Nahen Osten, entwickelten sich in den letzten Jahrzehnten vom Gegeneinander der Nationalismen zunehmend, auf dem Wege einer eminenten Re-Politisierung des Religiösen, zum Gegeneinander religiöser Fundamentalismen. Fundamentalisten lehnen Kompromisse ab – der Augsburger Text erwuchs großer Verhandlungs- und auch einer gewissen Kompromissbereitschaft. Fundamentalismen akzeptieren keine Grenzen – der Religionsfrieden versuchte die vielfältigen Besitzansprüche beider Seiten gegeneinander abzugrenzen. Der Augsburger Religionsfrieden versuchte zu erreichen, was derzeit vielerorts auf der Erde als so dringlich erachtet wird: religiösem Dissens seine politische Brisanz zu nehmen. Allerdings erwies sich der Augsburger Ansatz, das ausschließlich auf dem Wege der Verrechtlichung des Dissenses zu versuchen, als nicht dauerhaft tragfähig.
Warum es 1555 gar keine andere Möglichkeit gegeben hatte
Es gab 1555 gar keine realistische Alternative zum Versuch, den Wahrheitsdissens durch seine Verrechtlichung politisch handhabbar zu machen – durch seine Privatisierung politisch neutralisieren konnte man ihn nämlich nicht. Denn die Säkularisierung des einst christlichen