Der Konsens über das politische Verfahren schwindet
Um nun vom Stimmungsbericht wieder auf abstraktere Analyse zurückzuschwenken: Im Widerstreit der divergierenden Lesarten des Texts von 1555 schwand nicht nur die gemeinsame Schnittmenge zweier Auffassungen von Reich, Recht und Gesetz dahin – auch der Konsens über die Abarbeitung solcher Dissense im politischen Verfahren hat sich, zunächst kaum merklich, dann aber zusehends und mit gravierenden Auswirkungen verflüchtigt. Drangen Protestanten im Vorkriegsjahrzehnt auf die „Komposition“, pochten Katholiken auf die Entscheidungskompetenzen von Reichstagsmehrheit, Reichshofrat und Kaisertum. Die nach dem Verständnis der damaligen Zeit zentralen Fragen wollten Katholiken majorisieren, wollten die Protestanten frei aushandeln. (Die Nachkriegsordnung wird dann [<<45] der protestantischen Auffassung Tribut zollen – was für eine Seite zu den „essentials“ gehört, ist am Reichstag frei auszuhandeln: darauf läuft die „itio in partes“ des Westfälischen Friedens von 1648 hinaus, vgl. Kap. 5.5.3).
Vereinfachend und schematisierend kann man im letzten Vorkriegsjahrzehnt (wenn wir von den „politice Bäpstischen“ Dresdnern und ihrem Anhang hier jetzt einmal absehen) drei verfassungspolitische Positionen im Reichsverband ausmachen – kann man nämlich erstens beobachten, dass die Katholiken ihre strukturell im politischen System angelegten Vorteile zunehmend, anstatt den Konsens zu suchen, auszuspielen gedachten; dass, zweitens, die Mehrzahl der Auhausener gewisse, diese Vorteile kompensierende Sicherungen (insbesondere gegen ihre notorische Majorisierung) wünschten, also Detailkorrekturen, die aus ihrer Warte sogar systemstabilisierend gewirkt hätten; während die evangelische „Aktionspartei“ (Moriz Ritter) um die Heidelberger, drittens, gegen systemsprengende Konzepte nicht gänzlich immun, insbesondere aber für das Kalkül anfällig war, das ganze Räderwerk der Reichsverfassung stillzulegen, damit es nicht mehr den Katholiken in die Hände spielen konnte.
Ohne handlungsfähige politische Organe, ohne Grundkonsens und ohne Grundvertrauen in die politischen Partner war der Reichsverband nicht mehr steuerbar. Es bedurfte nur noch des sprichwörtlichen Funkens, der die brisante Mischung zum Explodieren brachte.
1.3.5 Kriegsgefahr hier und dort
Im Frühsommer 1610 schien es so weit gekommen, stand Europa an der Schwelle zu einem großen Krieg. Die evangelische Union verband mittlerweile eine Militärallianz mit Frankreich, und viel spricht dafür, dass König Heinrich IV. damals die „rupture générale“ in die Wege zu leiten suchte, auf einen groß angelegten europäischen Krieg gegen das Haus Habsburg aus war.
Traditionelle Rivalität Habsburg-Frankreich
Die Dauerrivalität zwischen dem Haus Habsburg und Frankreichs Königen war eine Grundstruktur der frühneuzeitlichen europäischen Staatenwelt bis zum „Renversement des alliances“ von 1756. Es hat mit historischen Erfahrungen zu tun, war gewissermaßen Tradition seit dem Streit um die Erbmasse des zerfallenden spätmittelalterlichen [<<46] Burgund und den Kämpfen um die Hegemonie über die Apenninhalbinsel an der Schwelle zur Neuzeit sowie den vier Kriegen, die allein Kaiser Karl V. zwischen 1521 und 1544 mit der französischen Krone ausfocht. Einen fünften ‚vererbte‘ Karl seinem Sohn Philipp II., 1559 beendete ihn der Frieden von Câteau-Cambrésis. Wenig später versank Frankreich in den Wirren der „Hugenottenkriege“ (1562–1598); der mit Abstand längste, achte Hugenottenkrieg entwickelte sich immer mehr von einem innerfranzösischen zum Krieg zwischen Frankreich und Spanien. Und kaum hatte Heinrich IV. das Land endlich konsolidiert, kam das herkömmliche französische Unbehagen über die Stellung des Hauses Habsburg sowieso wieder auf die politische Agenda.
Einerseits also hatte sich da eine dynastische Rivalität zur Traditionslinie verfestigt. Sie basierte aber auch auf geostrategischen Gegebenheiten. Das französische Staatsgebiet grenzte fast überall an Meer – oder aber an Habsburg: Im Süden wie im Norden an von Madrid aus regierte Länder der spanischen Habsburger; das westlich gelegene Alte Reich aber hatte fast schon gewohnheitsmäßig Kaiser aus der (schwächeren) österreichischen Linie des Hauses Habsburg. Man fühlte sich eingekreist, dadurch bedroht, war deshalb daran interessiert, das übermächtig scheinende Habsburg zu schwächen – wir müssen an diese Traditionslinie französischer Außenpolitik wieder anknüpfen, wenn wir fragen, warum der Dreißigjährige Krieg mit den kaiserlichen Triumphen der niedersächsisch-dänischen Kriegsphase, also 1629/30, nicht zu Ende war; und werden noch weiter unten erneut darauf zurückkommen, wenn sich Frankreich 1635 unmittelbar ins Kriegsgeschehen einklinkt.
Nun aber wieder ins Jahr 1610! Der zum Katholizismus konvertierte französische König Heinrich fand einen Ansatzpunkt, um in seine Kriegsplanungen ausgerechnet Deutschlands Protestanten zu verwickeln. Diese bangten damals um das Schicksal der konfessionell noch nicht festgelegten niederrheinischen Herzogtümer Jülich und Kleve.
Ein brisanter Erbfolgestreit am Niederrhein
Um was handelt es sich da, worum ging es? Zunächst einmal um ein Länderkonglomerat, das nur die Dynastie zusammenhielt: drei Herzogtümer (Jülich, Kleve, Berg) und zwei Grafschaften (Mark, Ravensberg). Warum war, und das seit Langem, Streit abzusehen? Weil Johann Wilhelm, nominell seit 1592 Herr über die vereinigten [<<47] niederrheinischen Herzogtümer, kinderlos war und das auch bleiben würde – er galt als geistig umnachtet, debil: Lange Jahre war da ein brisanter Erbfall abzusehen, alle möglichen Prätendenten konnten in den Archiven schürfen lassen und ihre Ansprüche begründen. Warum aber war der absehbare Erbstreit so brisant? Nun, zum einen waren die niederrheinischen Herzogtümer konfessionell gemischt – ein um 1600 schon selten gewordener Sachverhalt. Die Konfessionenkarte war hier noch gesprenkelt, die fraglichen Territorien waren, um es in der korrekten Fachterminologie auszudrücken, noch nicht „konfessionalisiert“. Als eines der letzten noch nicht definitiv zwischen den Religionsparteien ‚verteilten‘ Gebiete waren die niederrheinischen Herzogtümer schon reichsintern einiger Aufmerksamkeit sicher.
Aber sie ‚genossen‘ auch höchste internationale Aufmerksamkeit. Denn die benachbarten niederländischen Nordprovinzen um Holland und Seeland hatten sich seit 1568 jahrzehntelang Sezessionskämpfe mit der Madrider Zentrale und ihrer Brüsseler Statthalterregierung geliefert – zwar war dann 1609 ein zwölfjähriger Waffenstillstand zustande gekommen, traditionell verfeindet waren und blieben Spanien und seine separatistisch eingestellten Nordprovinzen allemal. (Wir werden diesem Konfliktherd noch wiederholt begegnen; tatsächlich werden die Kampftätigkeiten zwischen Madrid und Den Haag 1621 weitergehen, und zumal in seiner Spätphase wird sich der deutsche Dreißigjährige immer wieder mit dem niederländischen Achtzigjährigen Krieg verknäueln; die westfälischen Friedensverhandlungen werden beide Kriege beenden, und in ihrem Kontext, in Kapitel 5.6, wird dieses Studienbüchlein denn auch resümierend auf den Achtzigjährigen Krieg seit 1568 zurückblicken.) Natürlich wünschten sich die separatistischen niederländischen Nordprovinzen im Osten einen protestantischen Nachbarn, die habsburgtreuen südlicheren Provinzen – ungefähr das, was wir heute als Belgien kennen – aber einen katholischen. Habsburg wollte seine Position am Niederrhein ausbauen und der ewige Rivale Habsburgs in Europa, Frankreich, suchte dies zu verhindern. Die geostrategischen Gegebenheiten verliehen dem vorhersehbaren Erbstreit europäisches Gewicht.
Die Union lässt sich in den niederrheinischen Konflikt hineinziehen
Akut wurde das niederrheinische Erbfolgeproblem im März 1609. Zwei der vielen Prätendenten, die evangelischen Herrscher über das Kurfürstentum Brandenburg und über die Pfalzgrafschaft Neuburg, [<<48] suchten rasch vollendete Tatsachen zu schaffen, entsandten ihre Erbanwärter an der Spitze von Truppen ins strittige Gebiet, das sie militärisch okkupierten. In den damaligen Akten firmieren sie als die „Possedierenden“: als diejenigen, die – man ergänze: unabhängig von der strittigen Rechtslage – nun einmal faktisch im Besitz der Erbmasse waren (lat. possessio = Besitz, Besitznahme). Im Dortmunder Vertrag einigten sie sich auf die gemeinsame Regierung des Landes. Der Kaiser hingegen proklamierte, die strittigen Gebiete fielen vorläufig unter