Die Sorge: Rudolf sei diesen Herausforderungen nicht gewachsen
Der „Bruderzwist“ erwuchs, ganz allgemein formuliert, der Furcht der anderen maßgeblichen Habsburger, Rudolf verspiele die Position der Dynastie in Europa, sei insbesondere der Türkengefahr nicht gewachsen. Man bekam ja an den anderen habsburgischen Residenzen mit, wie es um Rudolfs Gesundheit, auch seine geistige und psychische, bestellt war. Alle Einzelheiten sind für uns entbehrlich; die Eskalation der längst notorischen untergründigen Spannungen leitete der Bocskay-Aufstand ein. Rudolf sah sich genötigt, Matthias zu seinem Statthalter in Ungarn zu ernennen. Er konnte damit nicht mehr verhindern, dass ihm die Brüder im Wiener Abkommen vom April 1606 die Regierungsfähigkeit absprachen; sie erklärten Matthias zum Chef des Hauses und beauftragten ihn, Frieden sowohl mit dem Führer der ungarischen Aufständischen, István Bocskay, als auch mit den Türken zu schließen.
Friedensschlüsse von Wien und Tzvita-Torok
Beides gelang Matthias noch 1606. Der Frieden von Wien mit den ungarischen Aufständischen gewährte große ständische und konfessionelle Freiräume, was den Oppositionsgeist auch der Stände der anderen habsburgischen Länder anstacheln musste; anstelle seines von [<<64] den Ständen abgelehnten Bruders übernahm Matthias die Leitung der Regierung in Ungarn. Der Frieden von Zvita-Torok beendete 1606 den Langen Türkenkrieg. Das ist nicht nur wegen des „Bruderzwists“ wichtig: Denn der Frieden wird währen, über ein halbes Jahrhundert lang, die vordem so bedrängende Sorge vor „türkischen“ Heereszügen konnte zur Memoria verblassen. Und: man stelle sich vor, die Osmanen hätten im Dreißigjährigen Krieg mitgemischt! Aber es sind auch desintegrierende Effekte plausibel (die sich den Zeitgenossen nicht erschließen konnten). Fiel da mit einer gewissen Stabilisierung der Türkengrenze nicht auch Einigungsdruck weg? Entfiel da ein Gefahrenszenario, das bislang dazu animiert hatte, sich an Reichstagen, über allen konfessionellen Hader hinweg, doch am Ende irgendwie zusammenzuraufen und dem Kaiser seine Reichssteuer zu bewilligen, weil die Notwendigkeit, sich dem expansiven Islam entgegenzustemmen, ja auch allen Protestanten einleuchtete? Ist das Fiasko des Reichstags von 1608 auch vor diesen Hintergrund zu stellen?
Der Aufstieg des Matthias; Rudolfs Hausmacht bröckelt
Was in den Augen der Brüder der dynastische Überlebenswille diktierte, addierte sich in Rudolfs Augen zu lauter dreisten Anschlägen auf seine Position. Mit dem Verlust Ungarns begann seine Hausmacht zu bröckeln, und seinem kaiserlichen Renommee konnte nicht zuträglich sein, dass der Bruder den Frieden mit den störrischen Ständen, sogar mit den Osmanen geschlossen hatte. Rudolf zog zuerst die Ratifizierung der Verträge hin, hintertrieb anschließend ihre Realisierung – die innerhabsburgischen Spannungen eskalierten erneut, schließlich marschierte Matthias mit Heeresmacht gen Prag. Wir müssen auch jetzt keine Einzelheiten des multiplen Intrigenspiels kennenlernen, nur das Resultat: Rudolf hatte 1609 neben der Kaiserwürde lediglich noch Böhmen inne. Den Löwenanteil der Habsburgerlande regierte nun Matthias. Übrigens wird auch Böhmen noch an ihn fallen, in den letzten Monaten vor seinem Tod im Januar 1612 ist Rudolf ‚nur‘ noch Kaiser, also gewähltes Reichsoberhaupt, ohne über habsburgischen Erbbesitz zu regieren.
Eigentlicher Gewinner des „Bruderzwists“ scheinen die Stände zu sein
Matthias, der Gewinner des „Bruderzwists“? So kann man es sehen, vor allem aber stärkte diese innerdynastische Rivalität die Landstände. Im „Bruderzwist“ waren alle Seiten auf ihre Unterstützung angewiesen, sie konnten ihre Bedingungen stellen. Es kam zu einer kurzlebigen Renaissance sowohl des Protestantismus als auch ständischer [<<65] Freiheiten. Alle Fortschritte des Katholizismus wie der Zentralgewalt schienen wieder zunichtegemacht.
So auch in Böhmen. Die dortigen Stände trotzten Rudolf (der ja ihre Hilfe gegen Matthias benötigte) 1609 den „Majestätsbrief“ ab – es war ein ultimativ überreichter ständischer Gesetzesentwurf, der große konfessionelle Spielräume vorsah. Er sprach allen Bewohnern Böhmens die freie Auswahl zwischen dem katholischen Bekenntnis und der Confessio Bohemica zu. Adel und königliche Städte dürften, so der Majestätsbrief, evangelische Gottesdienste veranstalten, dürften Kirchen bauen und Schulen einrichten, Geistliche und Lehrer ernennen; Ansätze zu einer überlokalen, ja sogar überregionalen evangelischen Kirchenorganisation wurden dadurch abgesichert, dass der Majestätsbrief ein Konsistorium (eine oberste geistliche Aufsichtsbehörde) zugestand. Mit dem Schutz der ständischen Rechte, insbesondere natürlich des Majestätsbriefs selbst, wurde eigens ein Ständegremium beauftragt, sozusagen eine oberste Beschwerdestelle – die sogenannten „Defensoren“ (lat. defensor = Verteidiger, Beschützer). Mit dem Majestätsbrief hatte die böhmische Krone das Kirchenregiment weitgehend aus der Hand gegeben.
Es sind Streitigkeiten über die rechte Auslegung des Majestätsbriefs, die in Böhmen in den letzten Vorkriegsjahren die Atmosphäre vergiften, und auch den „Defensoren“ werden wir bei den Ereignissen, die zum „Fenstersturz“ hinführen, wieder begegnen.
1.5.3 Streit um den Majestätsbrief
Die vom Majestätsbrief geweckten ständischen und konfessionellen Hoffnungen schlugen in den Jahren vor dem Prager Fenstersturz im Mai 1618 in wachsende Frustration um. Bei Rudolfs Tod im Januar 1612 fühlten sich die böhmischen Stände stark. Sie wollten ihren neuen König, Matthias, sogar zur Unterzeichnung eines Reverses zwingen, der ihnen das Recht zusprach, jederzeit zur Verteidigung der von Rudolf verbrieften konfessionellen wie libertären Standards Truppen aufzustellen, ferner ein Bündnis mit den ungarischen und österreichischen Ständen einzugehen. (Ein Versprechen, ständische Privilegien zu achten, nannte man in der Vormoderne „Revers“.) Matthias wollte einerseits nicht sogleich auf Konfrontationskurs gehen, dachte [<<66] andererseits gar nicht daran, seine Unterschrift unter den Revers zu setzen, und verzichtete deshalb sogar zunächst auf die Erhebung von Steuern – denn dafür hätte es eines Landtags bedurft, und dort wäre Matthias absehbar mit besagtem Dokument konfrontiert worden, mit der Forderung nach Defension und Konföderation.
Generallandtag 1615: unerwartete ständische Schwächen
Die weiterhin instabile Lage auf dem Balkan zwang Matthias schließlich 1614 doch zur Einberufung eines Generallandtags der von ihm regierten Länder in Linz. Heraus kam für ihn nichts, all die ansonsten divergierenden ständischen Kräfte einte die Opposition zum Haus Habsburg. Dem war nicht mehr so, als Matthias im Juni 1615 erneut zum Generallandtag, nun in Prag, lud. Die Exponenten des böhmischen Ständetums hofften auf eine Demonstration ständischer Stärke, oppositioneller Eintracht – und erlebten ihr Debakel. Aus Ungarn kam erst gar niemand, weil die ungarischen Magnaten darüber enttäuscht waren, dass die anderen Länder zögerten, sich an den hohen Kosten für die Stabilisierung der Türkengrenze zu beteiligen. Die Österreicher kamen, lehnten auch ein Bündnis mit den Böhmischen nicht geradewegs ab, wohl deren Führungsanspruch. Schlimmer noch war, dass sogar Mährer, Schlesier und Lausitzer opponierten – nicht gegen Habsburg, sondern ebenfalls gegen die böhmischen Standesgenossen. Die rissen alles an sich, wollten Nebenländer wie Mähren überspielen, wollten, wie der mährische Ständeführer Karl von Zierotin monierte, „selbst der Kopf sein und wir sollen der Schwanz bleiben“. Karl von Zierotin war aber auch für einen anderen Kurs den Habsburgern gegenüber, plädierte für mehr Vorsicht, weniger Konfliktbereitschaft. Habsburg konnte es recht sein.
Anders, natürlich, den Konfliktbereiten unter den Ständevertretern, die es nicht ausschließlich in Böhmen, aber doch vor allem dort gab. Sie verzweifelten an ihren ständischen Mitstreitern, versuchten auf eigene Faust, Fäden mit dem europäischen Ausland, zum Beispiel mit den Heidelbergern, anzuknüpfen, und steigerten sich in eine Stimmung hinein zwischen Verzweiflung und Wut, was die Bereitschaft befördern konnte, eben – eine Verzweiflungstat zu begehen, da man ja doch nichts mehr zu verlieren habe. Das wird für die Ereignisse des Jahres 1618 noch wichtig werden.
Habsburg