Der Dreißigjährige Krieg. Axel Gotthard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Axel Gotthard
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345559
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vollzog sich auf langen und verschlungenen Wegen, aber zwei Schübe, die nicht in strikter Scheidung aufeinanderfolgten, sondern gleichsam eine gemeinsame zeitliche Schnittmenge aufweisen, sind hierbei besonders wichtig gewesen: Jene Konfession, die einst alle Lebensbereiche vollständig imprägniert hatte, wurde zunächst einmal [<<56] zu einem öffentlich relevanten Teilbereich gesellschaftlicher Wirklichkeit neben anderen, wie der Politik oder dem Recht, die eigenen Sachlogiken folgen durften – im Fall der Politik der schon um 1620 geläufigen, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts inflationär beschworenen „Staatsräson“; sie wurde sodann, in einem zweiten lang gestreckten Schritt, einer Privatsphäre zugeordnet, in die die öffentliche Hand gar nicht mehr hineingreifen sollte – Kehrseite dieser neuen Freiräume war eine gewisse Einbuße an öffentlicher Relevanz. Jene „aufgeklärten“ intellektuellen Eliten des 18. Jahrhunderts, die die Weltanschauung zunehmend zur Privatsache erklärt haben, pochten ferner auf Respekt vor Teilwahrheiten und Heilschancen abweichender Glaubensbekenntnisse. Wenn auch andere Religionen Teilwahrheiten enthalten, der Mensch womöglich überhaupt nur Teilwahrheiten erhaschen kann, ist die Ausrottung anderer Weltanschauung nicht mehr sittlich geboten, sondern bei der Wahrheitssuche kontraproduktiv. Wenn jeder seines (irdischen und womöglich ewigen) Glückes Schmied ist, enthebt das den Staat seiner Verantwortung dafür. Jenes Seelenheil der „schäfelein“, das zentrales Anliegen staatlicher Politik im Konfessionellen Zeitalter gewesen war, kann nun der Privatsphäre zugewiesen, damit aus dem Raum des Politischen verbannt werden. Das Staatswohl definiert sich ohne Rücksicht aufs ewige Wohl der Bevölkerung.

      Politik, Recht, Glauben; öffentlicher Raum und Privatsphäre: erst solche Segmentierungen erlauben es, die Suche nach Heilswahrheiten dem individuellen Gewissen aufzubürden und das ewige Wohl der Bevölkerung aus den Staatszielen auszuscheiden (womit es auch nicht mehr auf dem Gewissen der Obrigkeit lastet und weshalb es zu befördern nicht mehr als ihre vornehmste Amtspflicht gilt). Indes waren solche Ausdifferenzierungen zwischen Politik, Recht und Theologie in den Jahrzehnten um 1600 nur in den Augen weniger legitim. Für die meisten damaligen Menschen dürften sie noch nicht einmal denkbar gewesen sein. Auch eine konsequente Scheidung von öffentlichem Regelbereich und privatem Rückzugsraum hätten sie sich nur schwer vorstellen können. Ein damaliger Politiker war nicht mit sich im Reinen, wenn er nicht der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen und das Seelenheil möglichst vieler Menschen zu ermöglichen suchte: Dieses Kernproblem des konfessionell gespaltenen Reiches konnte [<<57] der Religionsfrieden nicht neutralisieren. Insofern hat er weniger den Konfessionsdissens als den Diskurs über ihn verrechtlicht.

      Die Abdankung der Politik zugunsten der Rechthaberei

      Die Konfessionsparteien der Jahrzehnte um 1600 kämpften nicht wirklich um Rechtspositionen, sondern im Dienste der von ihnen exklusiv besessenen universalen Wahrheit, sie kämpften um Seelen. Weil aber 1555 besiegelt worden war, dass der diskursive Austausch mit dem Widerpart auf der Bühne der Reichspolitik in den Begrifflichkeiten des Rechts erfolgte, weil die 1555 festgelegte diskursive Währung Paragrafen des Religionsfriedens auf die Verhandlungstische packte und nicht Glaubensartikel, hatte man die eigenen Wahrheiten als einzig wahre Auslegungen der Augsburger Ordnung zu verfechten.

      Den damaligen Akteuren zu unterstellen, dass sie den Religionsfrieden dabei zynisch missbraucht, dass sie einfach verlogene Schlagworte vor sich hergetragen hätten, wäre unangemessen – nicht, weil Menschen des Konfessionellen Zeitalters edler und wahrhaftiger gewesen wären als der kapitalistische Homo oeconomicus (wer wollte das ermessen!), aber weil bei ihnen Recht, Politik und Theologie – in modernen Augen verschiedene Sachgebiete mit ihren je eigenen Sachlogiken – eben völlig ineinander verschränkt waren. Diese Menschen fochten für viel mehr als ‚nur‘ für Rechtspositionen, doch spricht nichts dafür, dass sie nicht davon überzeugt gewesen wären, dass das Recht auf ihrer Seite stand. Sie kämpften für ihr gutes Recht, von dem sie schon deswegen nicht abrücken konnten, weil es auf ihre Wahrheit und ihre Gerechtigkeit verwies. Weil man mit jeder Nachgiebigkeit auf dem juristischen Kampfplatz Seelenheil verspielte, konnte man nicht „durch die finger sehen“, wie das die Jahrzehnte um 1600 formulierten, konnte man, modern gesagt, nicht einfach bisweilen „alle Fünf grade sein lassen“, musste man vielmehr unerbittlich auf seinen Paragrafen herumreiten. Eben deshalb wirkte die „Verrechtlichung“ eines zentralen Problems der Reichspolitik in diesem Fall nicht befriedend.

      Die 1555 ausgeklammerte Wahrheitsfrage drängte ein halbes Jahrhundert später machtvoll in die gelehrten und die politischen Diskurse zurück. Es wurde immer schwieriger, einen Kernbereich reichspolitischen Aushandelns und reichspolitischen Krisenmanagements gegen das anbrandende Wahrheitsproblem, die Konkurrenz eines doppelten, je exklusiven Wahrheitsmonopols abzuschirmen. Die [<<58] Verrechtlichung des Konfessionsdissenses mündete in die Abdankung der Politik zugunsten der Rechthaberei.

      Setzt interkonfessioneller Frieden „Aufklärung“ und ein „liberales“ Menschenbild voraus?

      Ob man wirklich aus der Geschichte – oder doch nur aus eigenen Fehlern lernen kann? Lernen wir aus der Geschichte, dass haltbare interkonfessionelle Friedensschlüsse nur zwischen Bekenntnisgemeinschaften möglich sind, die ihre Phase von „Aufklärung“ durchlaufen haben? Gar nur zwischen Gesellschaften mit individualistischer, liberal imprägnierter Anthropologie, die – mit vielen anderen Lebensbereichen – auch die Weltanschauung gleichsam privatisiert (oder doch, wie hier in Deutschland, jedenfalls teilprivatisiert) haben? Wissenschaftlich stringent beantworten kann Geschichtsschreibung solche Fragen nicht, sie kann sie nur aufwerfen.

      1.5 Die böhmischen Anlässe des Dreißigjährigen Krieges

      1.5.1 Rückblicke: lange Tradition konfessioneller Heterogenität und ständischer Aufmüpfigkeit

      Dass die Funken, die seit 1620 Teile Europas in Brand setzten, aus Böhmen herüberwehten, ist ganz zufällig – wir sahen, dass das Reich ein Pulverfass war, das sich schon 1610 beinahe an niederrheinischem Konfliktpotenzial entzündet hätte. Dass die Funken, die seit 1620 Teile Europas in Brand setzten, aus Böhmen herüberwehten, ist höchst bezeichnend – auch so kann man es sehen: eine Frage der Perspektive.

      Warum könnte man denn Böhmen gewissermaßen für seine Rolle prädisponiert sehen? Nun, zwei große politische Themen der Jahrzehnte um 1600, wohl die damals zentralen, waren erstens der Widerstreit der Konfessionen, zweitens der Widerstreit zwischen erstarkender Zentralgewalt im Vorhof des „Absolutismus“ und ständischen Partizipationsansprüchen. (Der Schulbüchern geläufige Terminus „Absolutismus“ gefällt vielen Wissenschaftlern nicht mehr als Epochenbegriff, manche verwenden den Terminus überhaupt nicht mehr – kein Thema für dieses Büchlein, das es, manchmal in Anführungszeichen, beim „Absolutismus“ belässt, schon weil sich bislang keine griffige Alternative etabliert hat.) Böhmen hatte damals eine schon lange Tradition weltanschaulicher Heterogenität; und es hatte ungewöhnlich [<<59] selbstbewusste Stände. Die beiden großen Antagonismen der Zeit waren in Böhmen schon seit Generationen virulent, wurden hier auf engem Raum ausgefochten. Zeittypisch waren der Kampf um Seelen und das Ringen um die Macht ineinander verknäuelt. Dennoch: Trennen wir beide Aspekte einmal der Übersichtlichkeit halber voneinander!

      Warum die böhmischen Stände traditionell stark sind

      Warum waren denn die böhmischen Stände besonders stark und selbstbewusst? Zum einen waren die Stände überall in Mittelosteuropa stark. Es hat auch ökonomische Gründe. Anders als die „Grundherren“ Westeuropas, die fast alles Land an weitgehend selbstständig arbeitende Bauern verliehen, bewirtschafteten die ostmitteleuropäischen Magnaten mithilfe der „niedergelegten“, faktisch zu Lohnarbeitern heruntergedrückten einstigen Bauern riesige Ländereien. Sie agierten dabei sprichwörtlich „nach Gutsherrenart“, ließen sich von der schwachen Zentrale nicht dreinreden. Bei den Ständen Habsburgs kam ein Zweites hinzu: Die Habsburgerlande grenzten ans osmanische Riesenreich, die „Türkengrenze“ lief mitten durch Ungarn, Böhmen war nicht weitab. Die Habsburger brauchten die Mitwirkung und Zahlungsbereitschaft ihrer Stände, waren gleichsam erpressbar. Die Stände hat auch dieser enorme Geldbedarf der Zentrale stark gemacht.

      Die Steuerverwaltung war ständisch, wie vielerorts; auch die Aufbringung