wieder als jemand, der die Normen in ihrer Geltung und die Entscheidenden in ihrem Amte bestätigt und sich selbst die Möglichkeiten genommen hat, seine Interessen als konsensfähig zu generalisieren und größere soziale oder politische Allianzen für seine Ziele zu bilden. Er hat sich selbst isoliert. Eine Rebellion gegen die Entscheidung hat dann kaum noch Sinn und jedenfalls keine Chancen mehr. Selbst die Möglichkeit, wegen eines moralischen Unrechts öffentlich zu leiden, ist verbaut.
Das Verfahren habe die Funktion, „den einzelnen, wenn er nicht zustimmt, thematisch und sozial so zu isolieren, dass sein Protest folgenlos bleibt“. Man wird den inkriminierten „Hofprozessen“ alle diese Wirkungen nicht zusprechen wollen: Evangelische Beklagte, die von ihnen überzogen wurden, interpretierten die fraglichen „Normen“, nämlich den Reichsabschied von 1555, ganz anders als jenes Gericht, das sie als Entscheidungsinstanz gar nicht akzeptierten. Weil zahlreiche evangelische Reichsstände die Auslegungskunst des Reichshofrats ablehnten, konnte der einzelne Prozessverlierer durchaus „politische Allianzen für seine Ziele“ bilden, kollektive Entrüstung an Protestantenkonventen mobilisieren, seine Niederlage skandalisieren und zum evangelischen „Gravamen“ machen. Die Reichsgerichte produzierten [<<34] nicht mehr problemlos exekutierbare Urteile und „folgenlos“ bleibenden Protest, sondern folgenreiche Proteste und schwer exekutierbare Urteile.
Das ständische Reichskammergericht war konfessionell ausgewogener besetzt, aber die Probleme waren deshalb nur anders, nicht kleiner. Beispielsweise blockierten sich Katholiken und Protestanten häufig schon in jenen Extrajudizialsenaten gegenseitig, die darüber zu entscheiden hatten, ob ein Streit überhaupt gerichtsanhängig wurde. Damit konnte die konfliktkanalisierende Kraft des Verfahrens (wir dürfen die befriedenden Effekte der Rechtsprechung ja nicht nur bei den Endurteilen verorten) nicht mehr wirksam werden. Andere Probleme kamen hinzu, aber um Detailfülle und Vollständigkeit soll es hier ja nicht gehen – jedenfalls war die Wirksamkeit auch dieses Gerichtshofs schwer beeinträchtigt. Um erneut Luhmann zu zitieren: Er hat einmal zu Recht betont, ein politisches System müsse „die Entscheidbarkeit aller aufgeworfenen Probleme garantieren“. Das Reichskammergericht hat dazu nicht mehr beigetragen.
Krise der Reichsversammlungen
Aber dem Reich kamen überhaupt sukzessive die Foren des Meinungsaustauschs und der friedlichen Konfliktbereinigung abhanden. Der Versuch des Reichsdeputationstags (gewissermaßen ein verkleinertes Abbild des Reichstags), sich einiger vom Kammergericht nicht mehr lösbarer Rechtsstreitigkeiten anzunehmen, führte 1601 zu seiner Sprengung. Der Rheinische Kurfürstentag, eine fürs Spätmittelalter zentral wichtige, noch im 16. Jahrhundert bedeutsame Tagungsform, zerbrach irreversibel an der Unlust der drei rheinischen Erzbischöfe, sich mit dem aus ihrer Sicht ketzerischen, nämlich calvinistischen Kurpfälzer an einen Tisch zu setzen. Man blieb lieber unter sich, wollte die Feindbilder gar nicht mehr dem Realitätstest aussetzen. Der Kurpfälzer und der Kurfürst von Brandenburg traten dem Kurverein nicht bei, weil die geistlichen Amtskollegen „mit lauter Martialischen unndt Kriegerischen Gedanken“ erfüllt seien.
Im frühen 17. Jahrhundert war von allen Institutionen des Reiches nur noch der Reichstag – leidlich – arbeitsfähig. Das macht die Sprengung der Regensburger Tagung von 1608 so fatal. Aufmerksamen Zeitgenossen entging das nicht: „De comitiis si quid vis, omnia ibi lenta et turbulenta et uno verbo ad bellum spectant“ („wenn Du wissen willst, wie der Reichstag verläuft – hier geht alles zäh voran und [<<35] doch drunter und drüber, kurz, Krieg ist in Sicht“). In evangelischen Akten dieser Monate grassiert eine Formulierung, die nicht modernem Deutsch entspricht und doch noch heute verständlich ist: „krieg steht ins haus“; es gerann rasch zum Topos. Wie sollten Konflikte fortan noch kanalisiert und gewaltlos geschlichtet werden? Musste man da nicht, um seine Interessen zu verfechten, fast zwangsläufig früher oder später zu den Waffen greifen? Noch im Frühjahr 1608 schlossen sich eine Reihe evangelischer Reichsstände in Auhausen zur evangelischen Union zusammen, die katholische Seite wird 1609 mit der Liga nachziehen. Damit stehen wir unübersehbar in der Vorkriegszeit.
1.3.3 Evangelische Union und katholische Liga
Das evangelische Deutschland wird im Dreißigjährigen Krieg deutlich weniger geschlossen agieren als Deutschlands Katholiken; und anders als die bis 1635 fortexistierende Liga wird die Union die erste Kriegsphase, den Böhmisch-Pfälzischen Krieg, nicht überdauern. Woran liegt es? Es gab von Anfang an zwei Mankos: Innerhalb der Union mussten sehr verschiedene Denk- und Politikstile miteinander auskommen; und viele evangelische Reichsstände waren für die Union erst gar nicht zu gewinnen, fast ganz Norddeutschland blieb abseits.
Die Union wurde in einem Dörflein der fränkischen Markgrafschaft Ansbach gegründet, im Kapitelsaal des säkularisierten Klosters Auhausen. Gründungsmitglieder waren der Kurfürst von der Pfalz, der Herzog von Württemberg, die Markgrafen von Baden, Ansbach und Kulmbach sowie der Pfalzgraf von Neuburg. Die Bundessatzung schreibt zwar jährliche Bundessteuern fest, auf dass man für den militärischen Ernstfall gewappnet sei (es wurde also eine gemeinsame Kriegskasse angelegt), aber der Bündniszweck wird wiederholt ausdrücklich als defensiv charakterisiert. Die Allianz werde Truppen in Bewegung setzen, so eines ihrer Glieder angegriffen werde.
Probleme der Union 1: geringe Homogenität
Freilich, wer definierte den Angriffsfall? Weil sich der calvinistische Heidelberger Kurhof traditionell einem risiko- und konfrontationsbereiteren Politikstil verschrieb als die anderen, mehrheitlich lutherischen Residenzen des evangelischen Deutschland, konnte es schon von Bedeutung sein, dass die Leitung der Union in kurpfälzischer Hand lag. Friedrich IV. war eben, als Kurfürst, das ranghöchste [<<36] Gründungsmitglied und wurde dementsprechend zum Direktor des Bündnisses ernannt – er also hatte die Korrespondenz zu führen, zu Bundestagen zu laden, wo ihm dann die Versammlungsleitung zukam. Auch die militärischen Bundesämter fielen in die Hände von Kurpfälzern oder von Anhängern des dortigen Politikstils. Die politischen und militärischen Schlüsselpositionen hatten Personen inne, die viel weiträumiger dachten als die meisten Unionsstände; Personen, die im europäischen Maßstab kalkulierten, für die die Union nicht lediglich Nachbarschaftshilfe im Fall der Bedrängnis zu organisieren hatte, für die diese Union Baustein einer europaweiten antikatholischen, antihabsburgischen Allianz war. Dieser weite Horizont, negativer formuliert: diese Neigung zum risikobereiten Hazardspiel war den meisten Fürsten im Bündnis (und erst recht den in den Folgejahren beitretenden reichsstädtischen Magistraten) fremd.
Probleme der Union 2: Norddeutschland bleibt abseits
Die Gründungsmitglieder der Union wird man süddeutsch nennen können, auch den später beitretenden Pfalzgrafen von Zweibrücken, die Grafschaft Öttingen sowie insgesamt 17 fränkische, schwäbische und elsässische Reichsstädte, ferner die fränkische Reichsritterschaft. Dazu kamen noch – sagen wir salopp: ungefähr in der Mitte des Reiches – der Landgraf von Hessen-Kassel sowie das Fürstentum Anhalt. Dabei aber blieb es. Die Union vergrößerte sich in ihren schwungvollen Anfangsjahren rasch auf 28 Bundesglieder, aber seit 1610 stagnierte der Mitgliederstand. Die norddeutsche Tiefebene blieb abseits, lediglich Kurbrandenburg im Nordosten wird zeitweise zur Union gehören, aber nie ein zuverlässiger Verbündeter sein. Spät beitretend, hat sich Berlin seit 1617, also vier Jahre vor der Auflösung der Union, faktisch schon wieder diesem entlegenen Bündnis mit seinen süddeutschen Interessen entwunden, keine Beiträge mehr entrichtet, keine Bundestage mehr beschickt. Noch einmal drei Jahre früher, nämlich bereits 1614, war das Gründungsmitglied Pfalz-Neuburg ausgeschieden, mit dem Regierungsantritt des zum Katholizismus konvertierten Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm.
Besonders schwer wog, dass mit Kursachsen das renommierteste evangelische Territorium, das Mutterland der Reformation, dauerhaft draußen blieb. An der Elbe betrieb man eine betont kaisernahe Reichspolitik, das Reichsoberhaupt aber war katholisch. Damit kam entschiedene konfessionelle Interessenwahrung in der Reichspolitik [<<37] für die Kursächsischen nicht infrage. In einem Gutachten von 1610 attestierten sich die Dresdner selbst: „politice seint wir Bäpstisch“ – meint in modernem Deutsch: In der Reichspolitik agieren wir so kaisernah wie die katholischen („bäpstischen“) Reichsstände. Die Dresdner standen