Diese zunehmende Bevorzugung der Vater-Bezeichnung für Gott erklärt sich vor dem Hintergrund der bereits im zeitgenössischen Judentum ebenso wie im paganen Bereich zu beobachtenden wachsenden Popularität der Vater-Metaphorik für Gott bzw. Götter oder auch den deifizierten römischen Kaiser. Diese Bevorzugung erklärt sich jedoch vor allem durch die historische Verwendung der Bezeichnung durch Jesus, sein eigenes Gebet und durch die in Lk 11,2 erhaltene explizite Gebetsanweisung: »Wenn ihr betet, so sprecht: ›Vater, Dein Name werde geheiligt.‹« Und diese Entwicklung erklärt sich vor dem Hintergrund der Überzeugung von der hoheitlichen Gottessohnschaft Jesu, mit der über die Aussage seiner Partizipation an der |95|Vater-Relation als Mitglied des auserwählten Bundesvolkes hinaus der Vorstellung von einer göttlichen Herkunft und göttlichen Qualität Jesu Ausdruck verliehen wird.
1.2 Gott als Vater des Gottessohnes: Die christologisch-hoheitliche Referenz der Vater-Metapher
Neben der abba-Anrede Gottes in Mk 14,36 findet sich die Bezeichnung Gottes als Vater durch Jesus auch in einigen vermutlich alten Spruchtraditionen der Evangelien. Abgesehen von der Einleitung des Vater-Gebets in Lk 11,2 apostrophiert Jesus Gott als Vater, als Herrn des Himmels und der Erde, der den Unmündigen Offenbarung zuteilwerden ließ, in Lk 10,21: »Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies Weisen und Klugen verborgen, Unmündigen (aber) offenbart hast. Ja, Vater, weil es dir so wohlgefallen hat.« Während die Vater-Anrede in diesem möglicherweise historischen Jesus-Logion noch absolut gehalten ist und ebenso wie Lk 11,2 als Vater-Anrede des glaubenden Juden Jesus verstanden werden kann, wird sie in Lk 10,22, also im sich anschließenden, vermutlich ursprünglich unabhängigen Spruch[15] konkret auf die Beziehung zwischen Gott und Jesus hin ausgelegt: »Alles ist mir übergeben von meinem Vater. Und niemand weiß, wer der Sohn ist, als nur der Vater, noch, wer der Vater ist, als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.« Die von Jesus vermittelte Offenbarung erscheint hier als die des Wissens um die besondere, persönliche Beziehung zwischen Vater und Sohn. Die in Lk 10,21 absolut gehaltene Vater-Bezeichnung wird in diesem Vers durch die Verwendung des Possessivpronomens »mein« und das epistemologische Geheimnis zwischen Vater und Sohn auf eine exklusive Beziehung hin konkretisiert.[16] Der Vers dokumentiert damit die allmähliche Etablierung der Gottessohnschaft Jesu im deklaratorischen und dann auch genealogischen Sinne im frühen Christentum, wie sie etwa die Tauf- und Geburtsgeschichten in den synoptischen Evangelien belegen und wie sie in der Anrede Gottes als »meinem Vater« zum Ausdruck kommt.[17] Entsprechend findet sich bereits bei Paulus die |96|Eulogie Gottes als des »Vaters unseres Herrn Jesus Christus« (2 Kor 1,3; 11,31; als Doxologie in Röm 15,6; vgl. auch Eph 1,3).
Der oder die Verfasser des Johannes-Evangeliums gestalten die Überzeugung vom besonderen Sohnschaftsverhältnis Jesu zum göttlichen Vater dann erzählerisch und theologisch weiter aus: Als μονογενής ist Jesus als inkarnierter Logos der einzige »leibliche« Sohn Gottes,[18] der in Wesens- und Wirkeinheit mit dem Vater diesen irdisch offenbart und diese Einheit mit den Worten »Ich und der Vater sind eins« (ἐγὼ καὶ ὁ πατὴρ ἕν ἐσμεν, Joh 10,30) beschreibt. Der Sohn ist eins mit dem Vater, kommt von ihm und kehrt zu ihm zurück. Der Vater offenbart sich im inkarnierten Sohn, der den Vater als einziger »gesehen« hat und ihn der Welt exegisiert (Joh 1,18).
1.3 Die Verbindung von ekklesiologischer und christologisch-hoheitlicher Referenz der Vater-Metapher
Wenngleich die Vorstellung von der Gottessohnschaft der Glaubenden durch ihre jüdische Tradition als prioritär zu denken ist, setzen die frühesten christlichen Schriften die hoheitliche Gottessohnschaft Jesu jedoch bereits ebenfalls voraus und bringen sie in einen Zusammenhang mit der Gottessohnschaft der Glaubenden. Es lässt sich also von frühester Zeit an bereits eine Verbindung von ekklesiologischer und christologisch-hoheitlicher Referenz der Vaterschaft Gottes erkennen.
Bereits in den paulinischen Briefen basiert die Vaterschaft Gottes gegenüber den Glaubenden auf seiner Vaterschaft dem Gottessohn gegenüber. Paulus macht deutlich, dass die Anrede Gottes als abba nur durch die Sendung des Sohnes und die Aufnahme des Geistes geschehen kann. So heißt es in Gal 4,4–6: »(4) Als aber die Erfüllung der Zeit kam, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter dem Gesetz, (5) damit er die unter dem Gesetz freikaufe, damit wir die Sohnschaft empfangen. (6) Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der ruft: ›abba, Vater‹.« Der Geist (Christi)[19] ermöglicht die Partizipation am |97|Göttlichen, die sich in der Konstitution der Vater-Kind-Beziehung konkretisiert, die hier wie ein Rechtsakt als Empfang der Sohn- bzw. Kindschaft (υἱοθεσία) beschrieben wird. Die Glaubenden werden vom göttlichen Vater auf der Basis der Sendung des Sohnes wie bei einer Adoption als Kinder angenommen. Der Geist gibt ihnen die Stimme, Gott ebenso wie Jesus als abba-Vater anzurufen. Möglicherweise rekurriert Paulus hier bereits auf eine frühe Tradition des Vatergebets, in dem Jesus Gott explizit als Vater anspricht (Lk 11,2: »Vater«) und die Jünger und Jüngerinnen lehrt, dies ebenso zu tun (Mt 6,9: »Vater unser«).[20]
Ähnlich, aber doch radikaler formuliert dies der Verfasser des Johannes-Evangeliums. Auch hier erscheint Christus als Vermittler der Gotteskindschaft der Glaubenden, nun aber nicht mehr im Rahmen eines rechtlichen Aktes. Die programmatischen Eingangsverse des Evangeliums beschreiben zunächst, dass der von Gott kommende Christus-Logos einem Teil der Schöpfung, nämlich denjenigen Menschen, die ihn »aufgenommen haben«, »denen, die an seinen Namen glaubten«, die Bevollmächtigung gab, »Kinder Gottes zu werden« (τέκνα θεοῦ γενέσθαι, Joh 1,12). Diese werden nun weiterhin gekennzeichnet als »die, die nicht aus menschlichem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott gezeugt sind« (ἐκ θεοῦ ἐγεννήθησαν, Joh 1,13). In Joh 3 legt Jesus im Gespräch mit Nikodemus dar, wie dieses »aus Gott Gezeugtwerden« zu denken ist: als ein »von oben«/»von neuem« (Joh 3,3)[21] bzw. »aus Wasser und Geist« (ἐξ ὕδατος καὶ πνεύματος, Joh 3,5) Gezeugtwerden. Auch hier wieder vermittelt der Geist die Kindschaft; das Wasser referiert vermutlich auf das Taufgeschehen als Aufnahme des neuen Kindes in die Familie Gottes.[22] Das Johannes-Evangelium formuliert mit den Lexemen »aus Gott« bzw. »von oben/von neuem Gezeugtwerden« (Joh 3,3) den Neuanfang Gottes mit den Menschen in semantischer Radikalität, die das »grundlegende Anders-Sein«[23] dieses Lebens unter dem Aspekt der Partizipation am Göttlichen und |98|damit an der Hoheit in den Blick nimmt.[24] Bei Johannes wird die zuvor auf Jesus konzentrierte Aussage der göttlichen Herkunft also nun auch auf die Glaubenden übertragen:[25] Sie sind als Kinder Gottes durch das »Gezeugtwerden« in eine genealogische Relation zu Gott als Vater gestellt und damit partizipieren sie zugleich an der Erhöhung. Die Gefahr einer Gleichstellung der Glaubenden mit dem einzig »leiblichen« Gottessohn, dem inkarniertern Christus-Logos,[26] ist dennoch nicht gegeben: Dieser unterscheidet sich durch seine Prä- und Postexistenz bei Gott, seine Inkarnation und die im Evangelium ausgeführte Wesens- und Wirkeinheit mit dem Vater von den anderen Gotteskindern, die aber dennoch »aus Gott gezeugt« sind.
Der Verfasser des 1. Petrusbriefs parallelisiert die Vaterschaft Gottes gegenüber Jesus und gegenüber den Glaubenden ebenfalls (1 Petr 1,3: »Gelobt sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns entsprechend seiner großen Barmherzigkeit neugezeugt hat«) und verwendet für die Vaterschaft Gottes den Glaubenden gegenüber das der johanneischen Semantik vom »von oben/von neuem Gezeugtwerden« (ἄνωθεν γεννάομαι) sehr nahestehende Lexem ἀναγεννάομαι (»neu gezeugtwerden«) für die Glaubenden (1,23; vgl. auch 1,3).
Die Metaphorik des »von oben« bzw. »von neuem Gezeugtwerdens« wird hier noch weiter ausgestaltet, insofern hier die Glaubenden mit neugeborenen Kindern auch bzgl. ihrer Glaubensreife verglichen werden, die mit dem Wort Gottes wie mit »unverfälschter, geistiger Milch« (2,2) gefüttert werden.
Das Bewusstsein der Verbundenheit