Die lukanische Erzählung vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) kann als metaphorisches Narrativ der Vaterschaft Gottes und ihrer Vorbildlichkeit gelesen werden. Der in der Parabel agierende Vater zeigt zahlreiche der eben ausgeführten Aspekte der göttlichen Vaterschaft. Dominiert wird die Erzählung allerdings von der Barmherzigkeit, Vergebungsbereitschaft und Liebe des Vaters, der Gott abbildet. Die Liebe dieses Vaters übertrifft alle menschlichen Maßstäbe und ist vorbildlich für die Glaubenden.
Vor allem im Schrifttum der johanneischen Schule wird besonders der Aspekt der Liebe des göttlichen Vaters hervorgehoben. Die Gedankenstruktur liegt in einzelnen Elementen bereits bei Paulus vor, wird jedoch hier nun argumentativ in eine schlüssige Haltungs- und Handlungslinie gebracht, die den Vater, den Sohn und die glaubenden Kinder eint: Der Vater liebt die Welt und sendet daher seinen einzigen (inkarnierten) Sohn in die Welt und damit in den Tod (Joh 3,16).[38] Insofern ist die Liebe in den johanneischen Schriften aufs Engste mit |104|der Vater-Metapher verbunden. Doch ist im Sterben des Gottessohnes genauso auch dessen Liebe erkennbar (1 Joh 3,16). Und die Liebe des Vaters wird nun noch stärker als in der synoptischen Tradition zur ethischen Richtschnur für seine Kinder (1 Joh 3,11.16), ja die Liebe Gottes bleibt nur, wenn auch die Kinder Gottes (den Bruder/die Schwester) lieben (1 Joh 3,14.17). Die Vater-Metaphorik inkludiert daher über das Moment der puren imitatio hinaus zugleich auch einen ethischen und soteriologischen Aspekt für die Glaubenden, die als von »Gott gezeugt« verstanden werden (Joh 1,12f.; 3,3).
Auch in 1 Petr klingt die Vaterschaft Gottes den Glaubenden gegenüber mit der Semantik der »Zeugung« an (1 Petr 1,3), die jedoch noch weiter ausgestaltet wird: Die Aufnahme des verkündigten Wortes, vergleicht der Verfasser mit dem Trinken der ersten Milch durch »gerade Geborene« (1 Petr 2,2). Über diese Milch- oder Still-Metapher erhält das Gottesbild des 1 Petr mütterliche Züge, insofern das »lebendige und bleibende Wort« von Gott stammt (1 Petr 1,23) und zugleich in einer nur der Mutter gegebenen Weise auf die »neugeborenen« Glaubenden übertragen wird. Der Vater-Gott des 1 Petr nährt seine Kinder auf eine üblicherweise nur der Mutter mögliche Art.
Ein besonderer Aspekt der frühchristlichen Verwendung der Vater-Metapher ist, dass sie das »Herr«-Sein Gottes abzulösen scheint. Zum einen zeigt sich das an der deutlichen Zunahme von Belegen für die Vater-Bezeichnung Gottes bereits innerhalb der kanonisierten Evangelien-Literatur. Zum anderen bittet das Vater-Gebet, das zahlreiche der eben genannten Aspekte der Vaterschaft Gottes enthält, in seinen Anfangsworten um das Kommen der Königsherrschaft Gottes, der βασιλεία θεοῦ, mit den Worten »Πάτερ, […] ἐλθέτω ἡ βασιλεία σου« (Lk 11,2/Mt 6,9). Das Gebet bittet nicht Gott als König um das Kommen seiner Königsherrschaft, sondern es bittet Gott als Vater um das Kommen dieser Herrschaft. Die Macht des Vaters kennzeichnet die Herrschaft Gottes, die nicht durch die Machtstruktur von König und Untergebenen gekennzeichnet ist, sondern grundsätzlich der Existenz in einer Familie, nun der familia dei, ähnelt.[39]
Im frühen Christentum impliziert die Vater-Metaphorik also sehr viel mehr als nur die »Liebe« des Vaters, wenngleich diese sicherlich |105|nicht ohne Grund als zentraler Aspekt des Verhältnisses von Gott und Glaubenden zu sehen ist.
Mit der Vater-Metaphorik formulieren die frühen Christinnen und Christen die entscheidende, neue, mit dem Christus-Erlebnis eingetretene Erkenntnis, dass Gott ein neues Verhältnis zu den Glaubenden eingerichtet hat, das sich vom vorausgehenden dahingehend unterscheidet, die genannten mit der Vater-Metaphorik verbundenen Aspekte in den Vordergrund zu stellen, wobei die Liebe des Vaters einen zentralen Stellenwert genießt. Die Liebe des Vaters zeigt sich ganz konkret in der Hingabe des Sohnes und in der Annahme der Glaubenden als Kinder.
Bereits im frühen Christentum lässt sich die Institutionalisierung der Vater-Bezeichnung durch das Vater-Gebet[40] und vermutlich auch durch die Verwendung der Vater-Bezeichnung in der Taufliturgie beobachten. Die Entwicklung der Metaphorik der Glaubenden als »von Gott Gezeugte« und »Neugeborene« ist vermutlich im Zusammenhang des Taufgeschehens zu verorten, das nach dem sog. Missions- und Taufbefehl in Mt 28,18–20 die Nennung des Vater-Namens implizierte (vgl. auch Gal 4,6). In Mt 28,19 beauftragt Jesus die Jünger: »Geht also und macht alle Völker zu Jüngern und Jüngerinnen, indem ihr sie tauft auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Dieser Auftrag erscheint in keinem anderen Evangelium und verweist daher darauf, dass die mt Gemeinde den von ihr praktizierten Ritus der Taufe auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes offenbar an die Jesus-Vita anbinden wollte.[41]
Die Verwendung der Vater-Bezeichnung in den Eingängen der paulinischen und nach-paulinischen Briefe (Röm 1,7; 1 Kor 1,3; 2 Kor 1,2; Gal 1,1.4; Phil 1,2; 1 Thess 1,1; 2 Thess 1,1–2; Eph 1,2; Kol 1,2; 1 Tim 1,2; 2 Tim 1,2; Tit 1,4), auch in Verbindung mit Eulogien (vgl. etwa 2 Kor 1,3; Eph 1,3; 1 Petr 1,3; vgl. auch Jak 3,9), deutet ebenfalls auf einen sich früh verfestigenden Gebrauch der |106|Vater-Bezeichnung Gottes in der Liturgie der Gemeinden hin, auf den in den Briefeingängen jeweils angespielt wird.[42]
3. Die Vater-Bezeichnung Gottes im frühchristlichen Ritus und in weiteren Schriften des frühen Christentums
Die Etablierung der Vater-Bezeichnung in den frühen christlichen Gemeinden über Verkündigung, Vater-Gebet und Taufe legen auch weitere Texte aus den ersten Jahrhunderten nahe. So zeigt etwa die früheste erhaltene Kirchenordnung aus dem 2. Jahrhundert, die Didache, dass die Taufe auf den »Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes« im frühchristlichen Ritus Aufnahme gefunden hat.[43] Hier heißt es in 7,1–3: »Betreffs der Taufe: Tauft folgendermaßen: Nachdem ihr vorher dies alles mitgeteilt habt, tauft auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes in lebendigem Wasser! Wenn dir aber lebendiges Wasser nicht zur Verfügung steht, taufe in anderem Wasser! Wenn du es aber nicht in kaltem kannst, dann in warmem! Wenn dir aber beides nicht zur Verfügung steht, gieße dreimal Wasser auf den Kopf im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes (εἰς ὄνομα πατρὸς καὶ υἱοῦ καὶ ἁγίου πνεύματος).«[44] Da auch weitere frühe christliche Texte diese trinitarische Formel belegen, lässt sich annehmen, dass die Taufe auf den Namen des Vaters (und des Sohnes und des Heiligen Geistes) – zumindest in Syrien, woher vermutlich auch das Mt-Evangelium stammt – bereits vor 100 n. Chr. verbreitet gewesen sein dürfte.[45] Im 2. Jahrhundert wurde dann auch anderenorts trinitarisch getauft.[46] Während des Taufaktes wurden also die Namen des Vaters, des Sohnes und |107|des Heiligen Geistes über dem Täufling ausgerufen, der Täufling dem Vater als göttlichem Herrn und metaphorischem »Vater« zugeordnet und damit die Vater-Bezeichnung als die grundlegende Bezeichnung Gottes für das christliche Gottesverhältnis institutionalisiert.[47]
Abgesehen vom Taufritus, mit dem vermutlich auch ein Bekenntnis des Täuflings zum »Vater« verbunden war, etabliert sich die Vater-Metapher für Gott aber am intensivsten über das Gebet im Gedächtnis der Christen und Christinnen: Die nach Mt und Lk von Jesus angemahnte Verwendung des Vater-(unser-)Gebets in einer der Mt-Fassung sehr nahen Version lässt sich ebenfalls anhand der Didache belegen. Nach Did 8,2–3 sollten Christinnen und Christen das Gebet »Vater unser, der du bist im Himmel […]« dreimal am Tag beten.
Aber auch andere Gebete der Didache verweisen auf Gott als Vater: Bei der Eucharistie, die am Herrentag gefeiert wurde (14,1), wird ebenfalls dem Vater gedankt: »Wir danken dir, unser Vater, für den heiligen Weinstock Davids, deines Knechtes […]. Wir danken dir, unser Vater, für das Leben, das du uns offenbart hast durch