Eine Bildung der zentralen ntl. Menschensohn-Aussagen in späterer nachösterlicher Zeit ist sehr unwahrscheinlich, denn sie eigneten sich nicht für die Mission, und Paulus nahm sie wahrscheinlich bewusst in seine Verkündigung nicht auf. Warum sollten die späteren Gemeinden einen im Griechischen eher unverständlichen und am Wort ἄνϑρωπος („Mensch“) orientierten Begriff zur christologischen Leitkategorie erhoben haben?283 Wahrscheinlich erfolgte die Übersetzung des aramäischen
Der gegenwärtig wirkende Menschensohn
Die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn enthalten sehr verschiedene Konnotationen. Es gibt Worte, in denen der Menschensohntitel im Zusammenhang mit Jesu Vollmacht erscheint (Mk 2,10par: „Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben, spricht er zu dem Gelähmten“; Mk 2,28par: „So ist der Menschensohn auch Herr über den Sabbat“), in anderen Worten ist von der Sendung Jesu im Ganzen die Rede (Mk 10,45: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“; Lk 19,10: „Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist“). Retrospektiv, aber sachlich sicher zutreffend wird Jesu Umgang mit Diskriminierten in Q 7,34 formuliert: „Der Menschensohn kam, aß und trank, und ihr sagt: Siehe, dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“. Schließlich scheint mit dem Menschensohntitel der Gedanke der Niedrigkeit, Verborgenheit und Ungeborgenheit Jesu verbunden zu sein (Q 9,58: „Und Jesus sagte ihm: Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels haben Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wohin er seinen Kopf legen kann“). Auf einen Gerichtskontext verweisen Q 11,30 („Denn wie Jona für die Niniviten zum Zeichen wurde, so wird es auch der Menschensohn für diese Generation sein“) und Q 12,8f („Jeder, der sich zu mir vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, wird vor den Engeln verleugnet werden“; vgl. Mk 8,38). Der letzte Text wirft besondere Fragen auf284: Meint Jesus hier mit dem Menschensohn eine andere Gestalt als sich selbst? Allein die Möglichkeit einer solchen Interpretation verweist nicht automatisch auf die nachösterliche Gemeinde. Ebenso könnte Jesus selbst dieses Wort im Kontext der Passion gesprochen haben. Isoliert man das Wort, dann kann mit dem künftigen Menschen-Richter ein anderer als Jesus gemeint sein285. Kommt jedoch der Anspruch Jesu in seiner Gesamtheit in den Blick, dann ist es mehr als unwahrscheinlich, dass er sich als Vorläufer oder Bote einer anderen eschatologischen Gestalt verstanden haben soll286. Während Q 12,10 (Das Reden wider den heiligen Geist) sicher und Mk 2,10; 10,45a; Lk 19,10 (als Variante von Mk 2,17; Lk 5,32) möglicherweise nachösterlich sind, bezeugen die anderen authentischen Worte, dass Jesus sein Wirken mit der Menschensohn-Gestalt im alltagssprachlichen Sinn (‚meine Person‘) gedeutet hat.
Der leidende Menschensohn
Die Worte vom leidenden Menschensohn liegen in den drei Leidensweissagungen (Mk 8,31par; 9,31par; 10,33f) und in Worten über die Auslieferung/Dahingabe des Menschensohnes vor (Mk 14,21par: „Denn der Menschensohn geht wohl dahin, wie über ihn geschrieben steht, doch wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird“; Mk 14,41: „Der Menschensohn wird in die Hände der Sünder ausgeliefert“; vgl. ferner Lk 17,25; 24,7). Mit großer Wahrscheinlichkeit sind die Worte vom leidenden und auferstehenden Menschensohn nachösterliche Bildungen, denn sie fehlen in der Logienquelle und lassen deutlich nachösterliche christologische Reflexionen erkennen287.
Der kommende Menschensohn
Während die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn der alltagssprachlichen Tradition verbunden sind, stehen die Worte vom kommenden Menschensohn in Verbindung mit visionssprachlichen Traditionen. So kündigt Jesus in Mk 14,62 sein zukünftiges Richten an: „Da sprach Jesus: Ich bin es, und ihr werdet den Menschensohn sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels.“ In einen Gerichts- und Parusiekontext gehören auch Q 12,40 („Seid auch ihr bereit, denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr nicht damit rechnet“), Q 17,24 („Denn wie der Blitz vom Osten ausgeht und bis zum Westen leuchtet, so wird der Menschensohn an seinem Tag sein“), 17,26.30 („Wie es geschah in den Tagen Noahs, so wird es auch am Tag des Menschensohnes sein … so wird es auch an dem Tag sein, an dem der Menschensohn offenbar wird“), Mt 10,23b („Amen, ich sage euch: Ihr werdet nicht vollständig durch die Städte Israels hindurchkommen, bis der Menschensohn kommt“), Mt 19,28 („…wenn der Menschensohn auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzt, [werdet auch ihr] auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten“) und die bereits besprochene Tradition vom Bekennen und Verleugnen in Q 12,8f/Mk 8,38.
Die Worte vom kommenden Menschensohn sind schwer zu beurteilen, denn einerseits scheint Jesus sein gegenwärtiges und zukünftiges Richterhandeln mit dem Begriff des Menschensohnes verbunden zu haben (Q 12,8f), andererseits nimmt der wiederkommende und richtende Menschensohn eine zentrale Stellung innerhalb der christologischen Konzeption der Logienquelle ein (s.u. 8.1.2), so dass mit einer starken nachösterlichen Gestaltung gerechnet werden muss. Während Lk 18,8b und Mt 24,30 nachösterliche Bildungen sind und auch die angeführten Q-Logien literarisch nach Ostern ihre vorliegende Gestalt fanden, wird man für Jesus annehmen dürfen, dass er sein gegenwärtiges und zukünftiges Geschick grundlegend mit der Menschensohngestalt verband288.
Jesus nahm den Ausdruck „Menschensohn“ auf, weil er kein zentraler Begriff in der jüdischen Apokalyptik war und sich als offener und nicht fest definierter Ausdruck besonders eignete, um sein Wirken zu charakterisieren. Züge des vorösterlichen Wirkens Jesu zeigen vor allem die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn, wobei Q 7,33f und Q 9,58 hervorzuheben sind. Man wird den Ausdruck „Menschensohn“ hier nicht generisch, sondern wahrscheinlich sogar titular verstehen müssen. Auffällig ist an diesen beiden Worten, dass die Macht des Menschensohnes gerade nicht offenbar,