Theologie des Neuen Testaments. Udo Schnelle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Schnelle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846347270
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beiden Basiskriterien der Kontext- und Wirkungsplausibilität nehmen die geschichtstheoretische Einsicht auf, dass nachhaltige historische Entwicklungen über Anschlussfähigkeit verfügen müssen. Diese Anschlussfähigkeit vollzieht sich immer innerhalb existierender kultureller Kontexte und setzt neue Entwicklungen in Gang.

      Materialkriterien

      Als materiale Kriterien für die Erhebung authentischer Jesusworte können gelten33: 1) Die Mehrfachbezeugung. Die Rückführung eines Wortes auf Jesus ist dann plausibel, wenn dieses Wort in verschiedenen Überlieferungssträngen aufbewahrt wurde (z.B. Jesu Stellung zur Ehescheidung in Mk, Q, Paulus). Zur Mehrfachbezeugung gehört auch die gegenseitige Bestätigung von Wort- und Tatüberlieferung. Wenn Jesu Worte und sein Verhalten in die gleiche Richtung gehen, sich wechselseitig erläutern, dann liegt ein starkes Argument für Authentizität vor (z.B. Jesu Verhalten gegenüber Zöllnern und Sündern). 2) Differenz- bzw. Unähnlichkeitskriterium. R.Bultmann formuliert dieses klassische Kriterium so: „Wo der Gegensatz zur jüdischen Moral und Frömmigkeit und die spezifisch eschatologische Stimmung, die das Charakteristikum der Verkündigung Jesu bilden, zum Ausdruck kommt, und wo sich andererseits keine spezifisch christlichen Züge finden, darf man am ehesten urteilen, ein echtes Gleichnis Jesu zu besitzen.“34 Das Differenzkriterium steht mit anderen Kriterien in Spannung (z.B. der Kontextplausibilität), und man kann hier von einer Wortlastigkeit sprechen, weil der Erzählüberlieferung zu wenig historischer Eigenwert zuerkannt wird. Dennoch ist der dem Differenzkriterium zugrunde liegende Gedanke ernst zu nehmen: Es können solche Aussagen von Jesus hergeleitet werden, die sich weder aus den Voraussetzungen und Interessen des Judentums, noch aus denen der christlichen Gemeinde erklären lassen. 3) Das Kohärenzkriterium. Dieses Kriterium beruht auf dem Postulat, dass sich die Verkündigung Jesu im Ganzen als kohärent erweisen muss. Es müssen Jesus somit diejenigen Teile der Überlieferung abgesprochen werden, die nicht in dieses Gesamtbild passen. Auch dieses Kriterium ist widersprüchlich, denn es setzt immer schon ein bestimmtes Bild der Verkündigung Jesu voraus, das sich dann selbst bestätigt. Dennoch ist auch hier der Grundgedanke zutreffend. Was sachlich mit jenen Stoffen übereinstimmt, die mit Hilfe eines anderen Kriteriums als echt erwiesen wurden, kann als ursprünglich gelten. 4) Das Wachstumskriterium. Dem Wachstumskriterium liegt die Überlegung zugrunde, dass ursprüngliches Jesusgut im Verlauf der Überlieferung durch sekundäre Texteinheiten angereichert wurde, die wiederum literarkritisch abgetragen werden können. Die literarkritische Analyse ermöglicht es hier, das Jesuslogion als Ausgangspunkt der Überlieferung zurückzugewinnen (vgl. Mt 5,33–37). 5) Das Anstößigkeitskriterium. Dieses Kriterium geht von der Überlegung aus, dass Worte oder Taten Jesu, die sowohl im jüdischen Umfeld als auch im Urchristentum als anstößig gesehen werden mussten, Verlegenheit hervorriefen und tendenzwidrige Züge aufwiesen, auf Jesus zurückzuführen sind. So gehört z.B. die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer zum historischen Grundbestand des Lebens Jesu, denn sie wurde vom Urchristentum in ihrer Bedeutung minimiert. Jesus lässt zudem unmoralische Helden in seinen Gleichnissen auftreten, so z.B. den ungerechten Haushalter (Lk 16,1b–7). Schließlich agiert Jesus selbst als unmoralischer Held und pflegt geselligen Verkehr mit Zöllnern und Sündern. 6) Das Kriterium der Ablehnung und Verwerfung. Hier geht es um Ereignisse, Erzählungen und Worte, die zu einer Ablehnung Jesu führten. Zu diesem Bereich gehören z.B. die Zurückweisung der Tora-Auslegung Jesu durch die Pharisäer und Schriftgelehrten; sein Einzug in Jerusalem, der von Juden und Römern als religiös-politische Anmaßung verstanden werden konnte, oder die Tempelreinigung, die von den Sadduzäern als Angriff auf ihre Privilegien gewertet werden konnte.

      Jedes Jesus-Bild ist notwendigerweise und unausweichlich eine Konstruktion, die aber nicht willkürlich, sondern auf der Basis der Überlieferung anhand von Kriterien vollzogen wird35. Jedes Einzelkriterium verfolgt eine bestimmte Frageabsicht und ist für sich widersprüchlich. In ihrer Gesamtheit sind die Kriterien jedoch aussagekräftig, denn sie ergänzen sich im Zusammenspiel. Ein Gesamtbild baut immer auf den Ergebnissen von Einzelanalysen auf, zugleich beeinflusst das gewonnene Gesamtbild stets auch die Einzelanalysen. Dieser Zirkel ist sachgemäß, weil so Einseitigkeiten verhindert werden. Der vorausgesetzte und zugleich immer wieder gewonnene Gesamtsinn des Wirkens Jesu und die zahlreichen Einzelaspekte seines Wirkens interpretieren und ergänzen sich gegenseitig.

      Über die genannten Kriterien hinaus ist die Überlieferungsdichte von grundlegender Bedeutung; je umfassender bestimmte Redeformen (z.B. Gleichnisse), Perspektiven (Reich Gottes, Gericht), Taten (z.B. Heilungen) und Handlungen (z.B. Konflikte mit Pharisäern; Gemeinschaft mit ‚Unreinen‘) dominieren, um so wahrscheinlicher bilden sie das Zentrum des Auftretens Jesu. Die Überlieferungsdichte lässt die Grundstrukturen des Wirkens Jesu deutlich vor Augen treten36 und zeigt, wie Jesus vor und nach Ostern wahrgenommen wurde. Kein historisch plausibles Jesus-Bild kann an den Hauptlinien der narrativen Präsentation Jesu und damit an der Überlieferungsdichte vorbei entworfen werden!

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      J.BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, BSt 63, Neukirchen 1972; O.BÖCHER, Johannes der Täufer, TRE 17, Berlin 1988, 172–181; ST. V. DOBBELER, Das Gericht und das Erbarmen Gottes, BBB 70, Frankfurt 1988; J.ERNST, Johannes der Täufer, BZNW 53, Berlin 1989; K.BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes, PaThSt 19, Paderborn 1991; R.L. WEBB, John the Baptizer and Prophet, JSNT.S 62, Sheffield 1991; H.STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg 1993, 292–313; J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s.o. 3), 19–233; G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 184–198; U.B. MÜLLER, Johannes der Täufer, Leipzig 2002; J.D.G. DUNN, Jesus Remembered (s.o. 3), 339–382; L.SCHENKE, Jesus und Johannes der Täufer, in: ders. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s.o. 3), 84–105.

      Mit keiner Gestalt Israels sah sich Jesus so eng verbunden wie mit Johannes dem Täufer. Bereits von ihren Zeitgenossen wurden beide miteinander verglichen (Mt 11,18fpar; vgl. Mk 2,18par; 6,14–16par) und in der frühchristlichen Überlieferung werden zahlreiche Verbindungen zwischen ihnen und auch ihren Schülern angedeutet (vgl. Mk 2,18; Lk 1,5ff; 11,2; Joh 1,35–51; 3,22ff; 4,1–3; 10,40–42; Apg 19,1–7). Wer Jesus von Nazareth verstehen will, muss Johannes den Täufer kennen lernen.

      Das Neue Testament und Josephus (37/38 – um 100 n.Chr.) sind die beiden wichtigsten Quellen über Johannes d. T., die mit ihren Darstellungen jeweils eigene Ziele verfolgen. Die ntl. Nachrichten sind von der Auseinandersetzung mit der Täuferbewegung bestimmt und deutlich bestrebt, Johannes d. T. unterzuordnen, ihn zum eschatologischen Vorläufer und zum Zeugen des Messias Jesus von Nazareth zu degradieren (vgl. Mk 1,7f; Lk 3,16par; Joh 1,6–8.15.19ff). Josephus (Ant 18,116–119) stellt den Täufer für seine römisch-griechische Leserschaft als einen Tugendlehrer dar, der von Herodes Antipas getötet wurde, „obwohl er ein vortrefflicher Mann war und die Juden dazu aufforderte, Tugend und Gerechtigkeit gegeneinander und Frömmigkeit gegenüber Gott zu üben und zur Taufe zu kommen. Dann werde Gott die Taufe angenehm sein, weil sie nicht zur Abbitte für Sünden, sondern zur Reinigung des Leibes ausgeführt werde, denn die Seele sei schon vorher durch (ein Leben) in Gerechtigkeit gereinigt“ (Ant 18,117)37. Josephus schweigt über die Beziehung zwischen Johannes und Jesus, er unterdrückt die Gerichtsbotschaft des Täufers und stellt dessen Taufe als bloße rituelle Reinigung des Körpers ohne einen Bezug zur Sündenvergebung dar. Zugleich zeigt der Bericht des Josephus aber auch, dass im antiken Judentum der Täufer als unabhängige und selbständige Gestalt wahrgenommen wurde.

      Biographisches und Geographisches

      Das Geburtsjahr des Täufers ist unbekannt, er dürfte in den letzten Jahren vor dem Tod Herodes d. Gr. (4 v.Chr.) geboren sein38. Johannes entstammte wahrscheinlich einer einfachen priesterlichen Familie (vgl. Lk 1,5), und dieser priesterliche Hintergrund war für sein Selbstverständnis und Handeln von großer Bedeutung39. Die Wirksamkeit Johannes d. T. begann nach Lk 3,1 im 15. Jahr des Tiberius, d.h. im Jahr 28; die Dauer seines