»Das ist großartig.«
Alles in mir fühlte sich tonnenschwer an und für eine Sekunde hatte ich geglaubt, dass ein kleiner Teil meines seelischen Ballasts sich gelöst hatte. Konnte es sein, ja, durfte ich es in Erwägung ziehen, dass meine Sorgen mich weniger erdrückten, wenn ich sie teilte?
»Geh zur Erinnerungsblume und lecke an ihrem Erinnerungsfühler.«
Ferngesteuert bewegte ich mich auf die bläuliche Pflanze zu. Eine tropische Hitze brachte mich zum Schwitzen und das gedimmte Licht erhellte den langgezogenen Flur. Ich betrat das Beet, die Erde unter mir gab nach und dann streckte ich meine Zunge aus und berührte den Fühler.
Neun
Was wäre ohne die Typen passiert?
Die letzten Tage hatte ich wie in Trance gelebt. Heute fühlte ich mich endlich selbst wieder. Sogar die Windbrise, die durch das geöffnete Fenster sauste, spürte ich an meinem Unterarm.
»Wie erwähnt, streiten sich die Geschichtsprofessoren bis heute, ob Chloris oder Flora verschiedene Wesen gewesen sind. Ob sie eine Nymphe, eine griechische Göttin oder die Personifizierung der Blumen darstellt. Sie ist eine der ersten aufgezeichneten Pflanzenmagierinnen gewesen, die sich auch als solche bezeichnet hat.« Geschichtsmentor Douglas, der uns die Eckpunkte unserer magischen Vergangenheit beibrachte, damit wir sie danach selbst recherchieren konnten, schritt an uns Neuankömmlingen vorbei und fischte mithilfe eines Gänseblümchens einer jungen Frau namens Juna das Handy aus der Hand und packte es in ihre Tasche. »Natürlich hat es auch vor ihr welche gegeben.«
»Mein Handy!« Nachdem Junas erstes, empörtes Stöhnen nicht genug Beachtung fand, schickte sie ein zweites hinterher.
Und die war die Exfreundin von Drakon gewesen? Na gut, die passten mit ihren Attitüden perfekt zusammen.
»Sie sind alle Erwachsene in diesem College. Benehmen Sie sich auch so. Während der Kurse sind Handys nur erlaubt, wenn wir sie brauchen.«
Juna verschränkte die Arme und lehnte sich am Blatt ihrer blauen Prunkwinde zurück. Alle hatten das getan. Bis auf mich. Ich saß auf einer Kommode.
Die meisten waren wohl genervt von den Erzählungen. Schließlich kannten sie die Geschichten. Für mich war es, als würde man mir eine neue Farbe zeigen wollen, die ich noch nie gesehen hatte. Unvorstellbar.
Bis auf die Blumentöpfe, aus denen man sich Stuhle und Tisch wachsen ließ, wirkte das Zimmer wie eine normale Schulklasse. Wenngleich ich nicht oft welche besucht hatte.
Douglas nahm auf dem Lehrerschreibtisch Platz und sah mich direkt an. »Hast du dir das ungefähr vorstellen können, Margo?«
Nett gemeint, ja, nur drängte er mich dadurch noch mehr in die Alienrolle. Douglas schob seine Retrobrille auf seine Halbglatze und roch an seinem Ginko-Ast, der aus seiner Brusttasche ragte. Harmonia hatte mir erzählt, dass er an Alzheimer litt und Angst hatte, die Geschichte, die er seit Jahrzehnten lehrte, zu vergessen. Ginko sollte dagegen helfen.
»Danke, ja.«
»Okay, Margo, und wie haben sich die Menschen bisher sonst Zusammenstöße mit unserer Welt erklärt?«
Tief ein- und ausatmend, blickte ich auf meine Notizen, die direkt neben dem Porträt von Harmonia waren, das ich gezeichnet hatte.
Die Linierung des Blockes verschwamm vor meinen Augen. Kicherte da jemand oder bildete ich mir das ein?
Die Fingernägel, die ich mir in meine Handinnenseiten bohrte, gaben mir ein wenig Halt.
Immer wieder gab es kleine Flashbacks von der Erinnerungsblume, zu der Callidora mich gebracht hatte.
»Na, Straßenmädchen?« Kamu, der mir nur durch blöde Sprüche in Erinnerung geblieben war, musste selbstverständlich auch jetzt seinen Senf dazugeben.
Der Typ konnte mich nicht ausstehen. Morpheus hatte mich deshalb bereits gewarnt. Er hasste alles und jeden, der sich nicht völlig der Pflanzenmagie verschrieb. Diese innere Wut, die Kamu mit sich trug, zeigte sich auch in seinem Gesicht. Ständig ein böser Blick, die Mundwinkel leicht nach unten geneigt und spitze Eckzähne, die ihn wie ein bedrohlicher Vampir wirken ließen, sobald er sprach.
»Sie haben sich Gestalten ausgedacht, Mythen und Sagen entwickelt. Wann immer die Pflanzenbegabten –«
Harmonia räusperte sich.
»Wann immer wir zu nachsichtig mit unseren Kräften umgegangen sind und die Menschen sich unsere Fähigkeiten nicht erklären konnten, entwickelten sie Geschöpfe, die sich bis heute gehalten haben. Baumgeister, Dryaden, Napaien, Huldras, Schraten, Flidais, Blodeuwedds und noch viele Gottheiten und Dämonen.«
»Ausgezeichnet. Es hat zum Beispiel – und das finde ich witzig – ein Treffen zwischen Menschen und der Erdgöttin …« Seine Cordhose kratzte über den Tisch, als er aufsprang. »Na wie heißt die denn.« Er schlug sich auf die Schläfe, roch an seiner Pflanze, ging im Kreis und hob schlussendlich den Finger. »Nichts sagen.«
Oh, nein. Wie er sich bemühte, den Namen zu finden, der ihm bestimmt auf der Zunge lag, tat mir leid. Douglas murmelte darauf los und als ich wieder Gekicher hörte, galt es nicht mir, sondern Douglas.
»Was stimmt nicht mit euch? Stellt euch vor, ihr wärt in seiner Lage.«
Kamu und eine junge Frau neben ihm glotzten mich an, als wäre ich ein Geist.
»Na und? Wir sind nicht er. Hätte er sich nicht jahrzehntelang die Hucke vollgesoffen, würden sich nicht auch noch die letzten Gehirnzellen verabschieden.« Dora mit dem pinken Jogginganzug auf dem BIEBER stand, haute das einfach raus – neben Douglas.
»Schon gut, streitet nicht wegen mir. Beenden wir den Kurs für heute.« Douglas stürmte aus dem Raum und die Tür schlug hinter ihm ins Schloss.
Dieses Knallen versteinerte mich. Es hallte in meinem Kopf nach. Türen erschienen vor meinem inneren Auge. Ich erspähte mich selbst als kleines Kind, betrachtete mich von außen. Mit der Zeichnung einer Blume in der Hand und den Worten: Für meine Mami – fiese Flashbacknebenwirkungen der Erinnerungsblume, an deren Fühler ich geleckt hatte, waren der Horror.
Und wieder dieses Türknallen. Dazwischen Worte, die ich nicht verstand, nicht hören wollte, bis sie sich durch meine Verdrängungsmechanismen kämpften und mir ins Gesicht brüllten: »Ich bin nicht deine Mami. Du hast keine Mami. Deine Mami wollte dich nicht.«
Türknallen.
»Margo?« Ein Schütteln riss mich aus dem Flashback. »Das ist echt mutig gewesen.«
»Danke, Harmonia. Muss los.« Keine Gefühle zulassen, keine Gefühle teilen.
Das schwächte mich, das hielt mich davon ab, besser zu werden, Daphne zu finden.
Doch vor der Tür verlangsamte ich meine Schritte, bis ich stillstand.
»Kommst du mit?« Nein, wenn ich mich für Daphne weiter-entwickeln wollte, brauchte ich meine Seelenblume und dafür musste ich mit mir ins Reine kommen. »Bitte.«
Ehe ich das Bitte ausgesprochen hatte, stand Harmonia neben mir und grinste breit. Ihr Charisma ließ all die Pflanzen in dem Zimmer noch prächtiger erstrahlen.
Da der Kursraum ganz oben in einem Turm war, stand man, kurz nachdem man den Raum verlassen hatte, vor einer großen Öffnung im Boden, die keine Ahnung wie viele Meter in die Tiefe ragte. Als hätte jemand absichtlich aufgehört, das Treppenhaus aus dem Turm raus fertig zu bauen.
»Heiß heute.« Harmonia fächerte sich mit den