»Komm, ich helfe dir wieder, okay?«
Ein Reflex in mir bereitete schon das Nein vor. Ich unterdrückte es und nahm ihre Hand. »Danke.«
Eine Ranke der Kiwi – von der ich nie gewusst hatte, dass die Frucht auf einer Kletterpflanze wuchs – schnappte sich uns. Wir fielen, fielen und fielen.
»Margo. Das ist nicht normal. Wir sollten nicht so schnell von ihr nach unten getragen werden«, brüllte Harmonia und gerade, wenn ich mir einmal einredete, dass das normal war, war es eines nicht: Normal.
»Was?«
Marmorboden näherte sich uns und ich wünschte mir, nicht den Mut gehabt zu haben, nach unten zu gucken. Wir schrien beide aus vollem Halse und Harmonias schrilles Kreischen bohrte sich wie ein Dolch in mein Ohr.
Auf einmal wurde die Welt still und wir stoppten abrupt. Es drückte mir mein Frühstück hoch.
»Alles okay?« Clio hielt ihre Arme hochgestreckt und ich erkannte die anderen Ranken, die sich um uns geschlungen hatten.
Langsam setzte sie uns ab. Mein Herz raste und in einem ovalen Spiegel an der Wand erkannte ich, wie kreidebleich ich um die Nase war.
»Was ist denn mit euch los?« Clio hielt Harmonia fest, die sich an ihre Strickjacke klammerte.
»Ich, ich weiß es nicht. Die Pflanze hat uns nicht mehr getragen. Das, das ist mir noch nie passiert.« Harmonias Blick huschte an den Pflanzen entlang, als suche sie eine Erklärung für all das.
»Alles in Ordnung?« Drakon schlüpfte durch die Menge der Studierenden, die uns beäugte.
Durch solche Aktionen würde sich mein Eindruck auf die Leute hier nicht verbessen. Meine Hand zitterte, als ich meine Haare zurückstrich, dabei wollte ich doch lässig wirken.
»Ach, nichts passiert.« Ich winkte ab.
»Schon komisch. Eine Neue kommt, die niemand kennt, und eine von uns kann ihre Kräfte nicht mehr kontrollieren.«
Wer hatte das gesagt?
Hitze stieg in mir auf. Was ich sah, war das zustimmende Nicken vieler Studierenden.
»Merkwürdig, oder?«
Wieder erkannte ich nicht, von wem das kam.
»Was ist daran merkwürdig?« In meinem Kopf klang meine Stimme aggressiver.
»Lasst es gut sein.« Dass Drakon einsprang, wunderte mich.
»Margo kann nichts dafür. Ich bin geschwächt heute.« Harmonias Antwort löste nicht mehr als ein ungläubiges Genuschel aus. Leise Worte, die sich im Turm verloren und keines davon klang, als wäre es mir wohlgesonnen.
Meine Atmung beschleunigte sich, sodass ich mich fragte, ob ich nicht hyperventilierte. Um mich zu beruhigen, drückte ich meine kalt-schweißigen Hände an meine aufgeheizten Wangen und lehnte mich gegen die Wand. Die Wurzeln der Pflanzen, die sich dort wanden, schmerzten an meinem Rücken. Ob es nicht doch der Schmerz der Verschmähten war, konnte ich nicht sagen. Es nervte mich. Wenigstens hatte ich der Situation entfliehen können, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wo ich mich nun befand. Ich wollte mich ja öffnen, aber …
»Margo?«
Ich schreckte hoch und griff mir unter die Augen. Natürlich keine Tränen. Sicherheitshalber wollte ich es überprüfen.
»Drakon, was ist? Wie hast du mich gefunden?« Dieses College hätte eher den Namen Labyrinth verdient. Manchmal kam es mir vor, als würden sich die Wände verschieben.
»Du hörst zu wenig auf das Wispern der Pflanzen. Sie sprechen mit uns, wenn du es zulässt.« Drakon stand ganz dicht vor mir und suchte meinen Blick.
Am liebsten wäre ich seinen zartgrünen Augen nicht ausgewichen, doch seinem Geruch, diesem Vibrieren in der Luft, wenn er in meiner Nähe war, und diese Energie, die sich zwischen uns hochschaukelte, dem allen konnte ich nicht entfliehen. Es versetzte mich in Alarmbereitschaft. Was stimmte nicht mit ihm? Warum war er überhaupt dort unten beim Turm gewesen? Hatte er etwas damit zu tun?
»Margo?«
»Ich kann das nicht und wie du gehört hast, bin ich auch keine von euch. Ich bin keine von niemandem. Selbst Daphne konnte ich nicht beschützen.«
»Daphne?«
Mein Körper zuckte zusammen, als er ihren Namen aussprach und ich merkte, wie ich mich anspannte, kurz davor war, mich wieder zu verschließen, alle inneren Zugbrücken hochzuziehen. Wenn ich das alles durchstehen wollte, musste ich mit mir ins Reine kommen.
»Ich sehe doch, dass du mit dir kämpfst. Erzähl mir von ihr. Wir haben alle Probleme.« Drakon sagte das, als spräche er zu sich selbst.
»Du hast Probleme?«
»Klaro. Gutaussehende, reiche Probleme.« Drakons selbst-gefälliges Grinsen wieder.
Ein Arsch wie eh und je.
»Ich zeig dir meine, wenn du mir deine zeigst.«
»Nenn mich primitiv, aber ich finde solche Anspielungen rattenscharf.« Drakon leckte sich über die vollen Lippen und wenn Lippen arrogant sein konnten, dann seine. »Also gut.«
»Das ist genial.« Mehr Worte fand ich gerade nicht.
Was sich vor mir auftat, sprengte mein sämtliches Verständnis unserer Welt und würde ich nicht mittlerweile ein kleines bisschen weniger glauben, dass ich im Koma lag und nur träumte, würde ich denken, ich verlor den Verstand.
»Wenn dich das schon fertig macht, denk mal darüber nach, was ich unter meinem T-Shi–«
»Nein, lass es. Du bist gerade ein paar Sekunden sympathisch gewesen.«
Im Augenwinkel erkannte ich, dass Drakon so tat, als schmollte er, aber ich fokussierte mich lieber auf das, was vor mir lag.
Drakon hatte mich aus dem College und zu einem riesigen Baum gebracht, den ich öfter von weitem bereits erspäht hatte. Es war der Baum aus der durch Blütenstaub ausgelösten Simulation. Als ich direkt davor gestanden hatte, glaubte ich, der Baum ragte bis zum Universum. Als könnte man von seiner Spitze aus Planeten kitzeln und die Kälte des Weltalls erfühlen.
Nachdem Drakon uns mit den Ästen und Ranken des magischen Baumes nach oben gebracht hatte, tat mein Kiefer vor Staunen weh. Von hier aus erblickte ich die gesamte Insel, das Meer rund um Lidwicc und erkannte sogar Griechenland.
Mich jedoch zog etwas ganz anderes in seinen Bann. Das College. Das Lidwicc Island College. Selbstverständlich entging mir nicht, dass das Schloss pflanzenbewachsen war. Nun registrierte ich den vollen Umfang. Das herrschaftliche Schloss, das als College diente, war nicht das Zuhause vieler Kletterpflanzen. Das gesamte Schloss war eine einzige Pflanze.
Der Baum ragte ein wenig über das College und zeigte mir das Leben, das darin steckte. Ständig bewegten sich die Äste, Blätter, Ranken, Wurzeln, als wären sie die Adern des Schlosses und Blut pumpte sich durch sie hindurch. Bunte Blüten, die hier und da rosane, gelbe, orangene, türkise und rote Tupfer in die Landschaft malten, veränderten ständig ihren Ort. Die wenigen Steinmauern und Fenster, die ich ausmachte, schienen nun eher, als hätte man sie in die Pflanzenpracht gesetzt, als umgekehrt.
Um das Schloss flogen unzählige Bienen und andere kleine Tierchen huschten über das Pflanzenbauwerk.
»Hast du das gesehen? So viele Bienen.« Sofort packte ich Drakons Arm, wie ich es bei Daphne getan hatte, und zog ihn zu mir. »Da! Guck!«
Drakon überraschte mein Vorgehen wohl, weswegen er mit einem »Ahh!«, signalisierte, dass er den Halt verlor und umkippte. Drakon fiel seitlich auf mich und