b) „Ihre Angelegenheiten“
Das „selbstständige Ordnen und Verwalten“ durch die Religionsgemeinschaften bezieht sich auf deren „eigene Angelegenheiten“. Was hierzu zählt, war lange Zeit unklar.463 Die zwischenzeitlich vertretene und vom BVerfG aufgenommene Abgrenzung nach der „Natur der Sache“, d.h. der Zweckbestimmung, legt eine objektive Betrachtung zugrunde.464 Dem Staat die Entscheidung zu überlassen, was die Religionsfreiheit und insbesondere das Selbstbestimmungsrecht schützen sollen, ist unvereinbar mit dem Neutralitätsgebot.465 Insofern statuierte das BVerfG konsequenterweise, dass Ausgangspunkt weiterhin der staatliche Rahmenbegriff ist, wobei das kirchliche Selbstverständnis für die Qualifizierung einer Angelegenheit als eigene im Sinne des Art. 137 Abs. 3 WRV maßgebend ist.466 Es ergibt sich aus Sicht des BVerfG lediglich eine eingeschränkte Kontrollintensität staatlicher Gerichte auf Basis einer vom BVerfG entwickelten zweistufigen Prüfung467: Auf der ersten Stufe findet eine Plausibilitätskontrolle statt.468 Diese erfolgt basierend auf dem glaubensdefinierten Selbstverständnis und der Eigenart des kirchlichen Dienstes.469 Auf der zweiten Stufe erfolgt eine Gesamtabwägung (Wechselwirkungslehre).470 Dabei stehen sich die kirchlichen Belange und die hiermit kollidierenden Interessen gegenüber, wobei dem Selbstverständnis der Kirchen ein besonderes Gewicht zukommt.471
Aufgrund der durch die langjährige Auseinandersetzung gewonnenen Erkenntnisse besteht heute weitgehende Einigkeit, was unter „eigene Angelegenheit“ zu verstehen ist.472 Hierzu zählt nach herrschender Meinung alles, was für die Umsetzung des Auftrags der Religionsgemeinschaften nach ihrem Selbstverständnis erforderlich ist.473 Dass sich diese Aufgabenwahrnehmung nicht nur rein innerkirchlich widerspiegelt, sondern auch auf den weltlichen Bereich auswirkt, spielt dabei keine Rolle.474 Originär eigene Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften475 betreffen beispielsweise Lehre und Kultus476, Rechtsetzung, Bildung einer eigenen Kirchengerichtsbarkeit477, die interne Organisationsstruktur478, diakonische bzw. karitative Tätigkeiten479 sowie – hier von besonderer Relevanz – das kirchliche Dienst- und Arbeitsrecht480. Einen Sonderfall bilden diejenigen Angelegenheiten, die von Staat und Religionsgemeinschaften gemeinsam verwaltet werden.481 In der Praxis betrifft dies vor allem den karitativen Bereich.482
c) Angelegenheiten ökumenischer Einrichtungen
Damit ökumenische Einrichtungen abgeleitet von einer oder mehreren Religionsgemeinschaften am verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht teilhaben können, müssen auch gemeinsame Betätigungen mehrerer Religionsgemeinschaften als eigene Angelegenheit i.S.d. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV gelten.
(i) Grammatische Auslegung
Der Wortlaut des Art. 137 Abs. 3 WRV „ihre Angelegenheiten“ kann sowohl in die eine als auch in die andere Richtung verstanden werden: „Ihre“ Angelegenheiten bezieht sich auf die Religionsgemeinschaft. Hieraus könnte man schließen, dass es sich lediglich um die Angelegenheiten einer Religionsgemeinschaft handeln kann. Diese Auslegung würde dazu führen, dass von mehreren Kirchen getragene ökumenische Einrichtungen nicht am Selbstbestimmungsrecht partizipieren können. Die Beteiligung mehrerer schließt demnach die Geltung des Selbstbestimmungsrechts für eine Kirche aus. Andererseits zeichnet sich eine ökumenische Einrichtung gerade dadurch aus, dass sie gemeinsam von konfessionsverschiedenen Religionsgesellschaften getragen wird. Insofern ist es jeweils für sich gesehen „ihre“ Angelegenheit. Der Zusammenschluss in einem Rechtsträger ändert hieran nichts. Die Einrichtung leitet das Selbstbestimmungsrecht nach diesem Verständnis gleichzeitig von beiden Konfessionen ab. Die besseren Argumente sprechen für die letztgenannte Interpretation. Auch wenn man „ihre“ Angelegenheiten bezogen auf jede Religionsgemeinschaft für sich versteht, handelt es sich bei ökumenischen Betätigungen um eine Angelegenheit der jeweils einzelnen Kirche, die gemeinsam mit anderen Kirchen verfolgt wird.
(ii) Systematisch-teleologische Auslegung
Bei Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV handelt es sich um einen Teil der korporativen Religionsfreiheit.483 Insofern ist die Gewährleistung im Lichte von Art. 4 Abs. 1, 2 GG auszulegen. Was Teil „ihrer Angelegenheiten“ ist, definiert die Verfassung nicht näher. Dies ist auch nur konsequent: Zum einen wäre eine exemplarische Aufzählung im Rahmen des GG wenig zweckmäßig und zum anderen – und das ist das entscheidende Argument – steht es den Verfassungsgebern nicht zu darüber zu befinden, was als „ihre Angelegenheit“ anzusehen ist. Der weltanschaulich-neutrale Staat darf weder den Glauben des Einzelnen bewerten noch darüber befinden, was eine Religionsgemeinschaft im Einzelnen tut.484 Den Religionsgemeinschaften kommt das Recht zu, dasjenige, was ihrem Selbstverständnis nach zum kirchlichen Auftrag gehört und zu dessen Verwirklichung erforderlich ist, ohne staatliche Aufsicht oder Einflussnahme umzusetzen.485 Sieht es die Kirche zur Verfolgung kirchenspezifischer Zwecke als notwendig an, mit anderen Kirchen zusammenzuarbeiten, entspricht dies ihrem jeweiligen Selbstverständnis.486 Dem Staat steht es nicht zu, das Selbstverständnis der Kirchen und deren ökumenische Zielsetzung zu beurteilen.487 Auch im Sinne einer stetigen Fortentwicklung der Religionsgemeinschaften darf der Staat diese Bestrebungen nicht einschränken oder gar unterbinden.
3. Innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes
Die selbstständige Ordnung und Verwaltung eigener Angelegenheiten durch die Religionsgemeinschaften erfolgt innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Eine Beschränkung kann nur durch formelle Bundes- oder Landesgesetze erfolgen.488 Was indes konkret unter dem Schrankenvorbehalt zu verstehen ist, ist seit jeher umstritten.489 In der Weimarer Zeit legte man zunächst ein sehr wörtliches, rein formales Verständnis bei der Einordnung zu Grunde.490 Dieses Verständnis wurde jedoch dem Schutzgehalt des Art. 137 Abs. 3 WRV als Ausprägung der Religionsfreiheit nicht gerecht.491 Rechtsprechung und Literatur vertraten in der Folge lange Zeit die sog. Heckel´sche Formel.492 Hiernach ist ein für alle geltendes Gesetz „(…) ein Gesetz, das trotz grundsätzlicher Bejahung der kirchlichen Autonomie vom Standpunkt der Gesamtnation als notwendige Schranke der kirchlichen Freiheit anerkannt werden muss (…)“.493 Unklar war allerdings, was unter einem für die Gesamtnation „notwendigen“ Gesetz zu verstehen ist.494 Zwischenzeitlich nahm das BVerfG die Einordnung anhand einer Differenzierung zwischen innerkirchlichem und weltlichem Bereich vor (Bereichslehre).495 Sobald die innerkirchliche Sphäre betroffen ist, greift der Schrankenvorbehalt nicht; dieser Bereich ist staatlicher Einflussnahme vollständig entzogen. Für den Außenbereich greift der Schrankenvorbehalt nur soweit die Kirchen wie jeder andere auch betroffen sind.496 Dabei ist die eigens vom BVerfG entwickelte „Jedermann-Formel“ zugrunde zu legen.497 Somit ist jedes gegen die Religionsgemeinschaften gerichtete Sonderrecht unzulässig.498 Die Differenzierung zwischen religionsgemeinschaftlichem Innen- und Außenbereich ist im Gesetz jedoch nicht angelegt. Zudem ist eine trennscharfe Abgrenzung beider Bereiche nicht möglich.499 Insofern bringt auch diese Formel nicht die notwendige Klarheit.
Sowohl das BVerfG500 als auch die Literatur501 wenden daher in jüngerer Zeit die sog. Wechselwirkungs- bzw. Abwägungslehre an. Hiernach gilt der Schrankenvorbehalt dem Grunde nach für alle religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten.502 Die Schrankenbestimmung kann nicht anhand einer Formel erfolgen, vielmehr gilt es mittels einer Abwägung der sich gegenüberstehenden Grundrechtspositionen einen angemessenen Ausgleich anhand des Einzelfalls zu finden.503 Dabei steht das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften den kollidierenden Rechten Dritter bzw. anderen Verfassungsgütern gegenüber.504 Besonders zu berücksichtigen ist das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften.505