Bereits im EDK-Bericht zum Projekt «Nahtstelle Sekundarstufe I – Sekundarstufe II» (Galliker, 2011) findet sich als Empfehlung zur Optimierung dieses Übergangs, das Ende der obligatorischen Schule sei derart zu gestalten, dass die Jugendlichen gezielt auf den Einstieg in die Berufsausbildung und in allgemeinbildende Schulen vorbereitet werden. Die Bemühungen sollen darauf zielen, den Stand der von den Jugendlichen erworbenen Kompetenzen in Bezug zu ihren Ausbildungswünschen und -möglichkeiten zu setzen. Allfällige Lücken sollen geschlossen, Stärken weiter ausgebaut und die schulische Motivation aufrechterhalten werden. Schülerinnen und Schüler sollen in dieser Phase mehr Selbstständigkeit erhalten, projekt- und problemorientiert arbeiten sowie gewisse Angebote auswählen können.
Etliche Kantone haben in den letzten Jahren ihren Lehrplan für das neunte Schuljahr bereits in Richtung HarmoS-Vorgaben und Empfehlungen aus dem Nahtstellenbericht angepasst, indem der Unterricht verstärkt auf den Übertritt in die Sekundarstufe II und entsprechende individuelle Förderung ausgerichtet wurde. Wegweisend war dabei das Pilotprojekt «Neugestaltung des neunten Schuljahres im Kanton Zürich» (Kammermann, Sigrist & Sempert, 2007). Dieses Projekt führte eine individuelle Standortbestimmung der Schülerinnen und Schüler mittels Stellwerk-Tests2 im achten Schuljahr, ein anschliessendes Standortgespräch zwischen Schülerin oder Schüler, Lehrpersonen und Eltern sowie eine an Berufswahl oder weiterführendem Schulbesuch orientierte, gezielte Förderung der fachlichen und überfachlichen Kompetenzen im neunten Schuljahr ein. Weitere Merkmale der Neugestaltung des neunten Schuljahres im Kanton Zürich sind Wahlangebote, Projektunterricht und das Verfassen einer Abschlussarbeit am Ende der obligatorischen Schulzeit.
Eine zusätzliche Verbesserung der Berufsorientierung und Berufswahl verspricht man sich von ausformulierten Anforderungsprofilen für die berufliche Grundbildung. Das von der EDK und vom Schweizerischen Gewerbeverband (sgv) getragene nationale Projekt «Schulische Anforderungsprofile für die berufliche Grundbildung» hat zum Ziel, bis 2014 für rund 250 Berufe solche Profile zu erstellen (Zahno, 2012). Die Profile werden auf der Basis der HarmoS-Kompetenzmodelle für die Fächer Schulsprache, Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften zusammengestellt. Die Resultate individueller fachspezifischer Standortbestimmungen im achten oder neunten Schuljahr ermöglichen den Schülerinnen und Schülern, ihr persönliches Kompetenzprofil mit den Anforderungsprofilen der sie interessierenden Berufe zu vergleichen. Vorarbeiten wurden in den letzten Jahren vom Gewerbeverband des Kantons Zürich geleistet, der Kompetenzprofile für verschiedene Berufe entwickelt hat. Das Projekt hat wegweisenden Charakter, zielt es doch darauf ab, Jugendlichen bereits während des Berufswahlprozesses einen Vergleich ihrer persönlichen Voraussetzungen mit den Anforderungen eines Berufes zu ermöglichen. So können sie während der letzten beiden Schuljahre in einzelnen Fächern spezifisch und gezielt Schwerpunkte setzen und sich optimal auf den Übertritt in eine berufliche Grundbildung vorbereiten. Der Einbezug von Kompetenzprofilen in den Berufswahlprozess kann auch verhindern, dass Jugendliche eine Berufsausbildung wählen, in der sie über- oder unterfordert wären. Es gilt jedoch zu bedenken, dass sich die geplanten Anforderungsprofile, wie der Name des Projektes schon sagt, hauptsächlich auf die schulischen Kompetenzen, also vorwiegend die (Fach-)Kompetenzen der jungen Menschen beziehen. Die Frage ist, ob und wie im Rahmen solcher Profile auch die berufspraktischen Voraussetzungen der Jugendlichen konkret abgeklärt werden können. Leider ist es zum Zeitpunkt der Redaktion des vorliegenden Buches nicht möglich, Einblick in die Kompetenzprofile zu erhalten, sodass die Frage fürs Erste ungeklärt bleiben muss.
1.1.2Übergang an der «ersten Schwelle»
Transitionsverläufe: Welche Merkmale bestimmen den Übergang?
Leider liegen in der Schweiz bisher keine offiziellen statistischen Angaben vor, die es erlauben, individuelle Verläufe über die Schwellen hinweg zu erfassen. Forschungsergebnisse auf gesamtschweizerischer Ebene liefert die nationale Jugend-Längsschnittstudie TREE.3 Deren Ergebnisse zur Situation an der «ersten Schwelle» zeigen, dass schon im ersten Jahr nach dem Austritt aus der obligatorischen Schule bei vielen Jugendlichen die Ausbildung nicht linear verläuft (vgl. Abb. 1-3). Nur drei Viertel der im Jahr 2000 befragten Jugendlichen schafften einen direkten Übertritt in eine zertifizierende Ausbildung auf Sekundarstufe II (Gymnasium oder Berufsbildung), knapp ein Viertel befand sich in einer schulischen oder praktischen Zwischenlösung oder gar nicht in Ausbildung. Zwei Jahre nach Schulaustritt befanden sich 64 Prozent der Jugendlichen im berufsbildenden Ausbildungsstrang, rund 14 Prozent sind verzögert, nach einer einjährigen Zwischenlösung, in die Berufsbildung eingestiegen. Knapp jede/r Zehnte hat den Einstieg noch nicht vollzogen oder ist wieder ausgestiegen. Drei Jahre nach Schulaustritt waren zwei Drittel der Jugendlichen immer noch in einer beruflichen Ausbildung. Nur rund sechs von zehn Jugendlichen zeigten dabei einen linearen Verlauf, waren also direkt in eine Ausbildung eingestiegen und dort verblieben. Rund vier von zehn Jugendlichen waren verzögert oder gar nicht eingestiegen oder hatten Wechsel vollzogen.
Die TREE-Ergebnisse bestätigen somit, dass nichtlineare, diskontinuierliche Ausbildungsverläufe, geprägt durch Wartezeiten, Unterbrüche und Wechsel, heute fast ebenso häufig auftreten wie der sogenannte Normalverlauf (Hupka, 2003; Keller, Hupka-Brunner & Meyer, 2010).
Bestimmte Merkmale wie Geschlecht und Region, schulische, kulturelle und sozioökonomische Herkunft sowie Lesekompetenz (Letztere gilt als in der TREE-Studie erhobene Leistungsvariable) bestimmen laut den Ergebnissen des Jugendlängsschnitts den Übergang an der «ersten Schwelle» mit (Hupka, 2003):
•Geschlecht: Die Bildungsbeteiligung von jungen Frauen und Männern ist insgesamt gleich hoch, Männer beginnen jedoch häufiger eine Berufsausbildung, Frauen öfter eine allgemeinbildende Ausbildung. Frauen absolvieren deutlich häufiger ein Brückenangebot als Männer.
•Region: Während in der Deutschschweiz ein höherer Anteil der Jugendlichen in eine Berufsausbildung eintritt, absolvieren Jugendliche in der französischen und italienischen Schweiz eher eine allgemeinbildende Ausbildung. In der Deutschschweiz machen zudem mehr Jugendliche Gebrauch von einem Brückenangebot als in den beiden anderen Sprachregionen. In der Romandie ist der Anteil an ausbildungslosen jungen Männern im Vergleich höher. In ländlichen Gebieten orientieren sich die Jugendlichen eher in Richtung Berufsausbildung, in städtischen Gebieten eher in Richtung allgemeinbildender Schulen.
Abbildung 1-3
Nachobligatorische Ausbildungsverläufe (2000–2007), TREE (Keller, Hupka-Brunner & Meyer, 2010, S. 8, adaptiert)
•Schulische Herkunft: Jugendliche, die über einen Sekundarstufe I-Abschluss mit Grundanforderungen verfügen, treten eher in eine Berufsausbildung oder in ein Brückenangebot ein als solche, die die Sekundarstufe I mit erweiterten Anforderungen abgeschlossen haben. Letztere beginnen eher eine allgemeinbildende Ausbildung. Die schulische Herkunft bestimmt also, unabhängig von an der Lesekompetenz gemessenen Leistungsmerkmalen, die Zugangschancen zu einer nachobligatorischen Ausbildung.
•Nationale Herkunft: Während sich die Ausbildungssituation von Schweizer Jugendlichen und ausländischen Jugendlichen der zweiten Generation ein bis zwei Jahre nach Schulaustritt ähnlich gestaltet, befindet sich ein höherer Anteil von ausländischen Jugendlichen der ersten Generation in einem Brückenangebot oder bleibt ohne Ausbildung. Dies trifft insbesondere für Jugendliche der neueren Einwanderungsgebiete zu (z.B. Balkan, Türkei oder Portugal).
•Sozioökonomische Herkunft:4 Jugendliche aus Familien mit tiefem sozioökonomischem Status absolvieren eher eine Berufsausbildung, ein Brückenangebot oder gar keine Ausbildung als Jugendliche aus Familien mit hohem sozioökonomischem Status. Letztere finden sich eher in einer allgemeinbildenden Ausbildung und weniger häufig in einem Brückenangebot oder in keiner Ausbildung.
•Lesekompetenzen:5 Ein hoher Anteil von Jugendlichen mit tiefen PISA-Lesekompetenzen findet sich in Berufsausbildungen und Brückenangeboten oder absolviert