Diese und weitere Massnahmen haben zwar Fortschritte gebracht, aber bislang nicht genügt, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Die Anzahl der Lehrvertragsauflösungen ist mit einem Anteil von zwischen einem Fünftel und einem Drittel nach wie vor hoch; in einzelnen Berufen liegt die Quote sogar höher. Rund jede dritte der betroffenen Personen bricht nach einer Vertragsauflösung ihre Ausbildung ab und erreicht keine nachobligatorische Qualifikation. Es braucht deshalb zusätzliche Anstrengungen, um die angestrebte Sek-II-Abschlussquote von 95 Prozent sicherzustellen.
Das Eidgenössische Hochschulinstitut für Berufsbildung EHB IFFP IUFFP beschäftigt sich als schweizerische Expertenorganisation für die Berufsbildung neben der Aus- und Weiterbildung von Berufsbildungsverantwortlichen, der Berufsentwicklung sowie der Forschung in der Berufsbildung auch mit systemrelevanten Fragestellungen. Sie bietet der Berufsbildungspraxis und den politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern gut fundierte Grundlagen für die Weiterentwicklung des Systems und gewährleistet damit den Wissenstransfer von der Forschung in die Praxis.
Mit dem vorliegenden Buch soll ein praxisnaher Beitrag zur Verbesserung der Situation geleistet werden, indem einerseits mögliche Vorgehensweisen aufgezeigt und andererseits konkrete praktische Hilfestellungen für alle drei Lernorte gegeben werden. Die Autorinnen und Autoren beschreiben im ersten Kapitel die relevanten Grundlagen des Berufsbildungssystems und analysieren die Rahmenbedingungen im Übergang von der obligatorischen Schulzeit in die nachobligatorische Ausbildung. Dabei gehen sie insbesondere der Frage einer optimalen Passung zwischen den Ausbildungsvoraussetzungen der Lernenden und den Anforderungen des gewählten Ausbildungsberufes nach.
Dieser Passung schenken die Autorinnen und Autoren im Zusammenhang mit dem Früherfassungsprozess während der ersten Ausbildungsmonate grosse Aufmerksamkeit. Eine professionelle Früherfassung, wie sie in Kapitel 2 beschrieben wird, ist Voraussetzung, um – wenn notwendig – möglichst früh die nötigen Unterstützungsmassnahmen anbieten zu können. Dabei wird deutlich, dass sich das Ziel der hohen Abschlussquote nicht mit verstärkter Selektion erreichen lässt. Vielmehr ist an allen drei Lernorten eine Kultur der Lernförderung aufzubauen. Das Buch enthält erprobte Instrumente, mit deren Hilfe Art und Bedarf der Unterstützung ermittelt werden können, um dadurch die Lernförderung auf die Erkenntnisse der pädagogischen Diagnostik und die Gesprächsergebnisse der Beteiligten («runder Tisch») abzustützen.
Da in der Berufsbildung in vielerlei Hinsicht heterogene Verhältnisse herrschen, ist Lernförderung für alle Verantwortlichen Wunsch und Herausforderung zugleich. Theoretische Konzepte der Lernförderung werden in Kapitel 3 beschrieben. Was mit welchen Mitteln durch die Berufsbildungsverantwortlichen an allen drei Lernorten konkret gefördert werden kann, wird anhand von praktischen Beispielen in Kapitel 4 aufgezeigt. Das Buch schliesst mit einem Fazit und Empfehlungen.
Von zentraler Bedeutung im schweizerischen System der dualen Berufsbildung ist die Lernortkooperation. Die Qualität der Berufsbildung kann verbessert werden, wenn diese Kooperation intensiviert wird. Ausdruck dafür ist der «runde Tisch», an dem gemeinsam Lösungen für schwierige Situationen diskutiert und zielführende Massnahmen beschlossen werden. Im Bereich der Lernortkooperation besteht nach Einschätzung des Autorenteams Entwicklungsbedarf, dort liegt womöglich ein Schlüssel zum gemeinsamen Erfolg.
Im Zentrum der beruflichen Grundbildung stehen die Lernenden – die Berufsbildungsverantwortlichen schaffen durch die gute Zusammenarbeit zwischen den Lernorten die Voraussetzungen, dass die Lernenden Erfolg haben können.
Die heute 24-jährige Anna begleitet Sie durch dieses Buch. Sie hat den Eintritt ins Berufsleben in der Zwischenzeit geschafft und spiegelt am realen Beispiel die Praxistauglichkeit dieses Buches. Früherfassung, Diagnostik und Lernförderung sind Massnahmen, die helfen, Lernende wie Anna auf ihrem Weg des Lernens zu unterstützen, zu begleiten und zum Erfolg zu führen.
Das EHB IFFP IUFFP hofft, mit dem vorliegenden Buch den Hauptakteurinnen und -akteuren in der Berufsbildung, den aktiven Lehrpersonen sowie den Berufsbildnerinnen und -bildnern in überbetrieblichen Kursen und Betrieben, eine gut fundierte und wertvolle Hilfestellung für ihre anspruchsvolle Arbeit zur Verfügung zu stellen.
EHB IFFP IUFFP
Eidgenössisches Hochschulinstitut für Berufsbildung
Dalia Schipper
Direketorin
Wenn es gelingt –
unterwegs mit Anna
Nun stehe ich zum zweiten Mal vor einem Qualifikationsverfahren, diesmal als angehende Zierpflanzengärtnerin – und ich erinnere mich noch genau an die Gefühle, die ich beim ersten Mal hatte, als ich vor der Lehrabschlussprüfung als Innendekorationsnäherin stand. Ich weiss, dass es nicht so schlimm sein wird, dass ich mich einfach darauf einlassen und das Beste geben werde. Ich bin zuversichtlich, habe keine Ängste mehr; ich weiss, dass ich alles lernen kann, und es gelingt mir auch, die Kolleginnen zu motivieren, ihnen Mut zu machen, ihnen die Angst zu nehmen.
Ich weiss in der Zwischenzeit, dass ich lernfähig bin, dass ich immer lernen kann.
So äusserte sich Anna in einem Gespräch, zwei Jahre nach dem erfolgreichen Abschluss ihrer Erstausbildung als Innendekorationsnäherin.
Bis sie zu dieser Überzeugung kam, war es allerdings ein langer und oft mühevoller Weg.
Annas erstes Ausbildungsjahr als Näherin war erfolgreich verlaufen, sie war eine motivierte und gute Lernende, die im berufskundlichen wie im allgemeinbildenden Unterricht sehr gute Noten erzielte. Dies änderte sich, als im dritten Semester «berufskundliches Rechnen» auf dem Stundenplan stand. Anna hatte Schwierigkeiten, ein «Genügend» zu erreichen, gleichzeitig fiel es ihr im Betrieb schwer, alltägliche Berechnungen auszuführen, aufgrund derer beispielsweise Stoffmengen bestellt werden konnten. Aus diesem Grund bat die Ausbildnerin um ein Gespräch mit den verantwortlichen Lehrpersonen, den Eltern und der Lernenden, um die Chancen auf einen erfolgreichen Abschluss zu klären. Das Ergebnis war die Empfehlung der Berufskundelehrerin, Anna solle für eine befristete Zeit die Eins-zu-eins-Lernberatung besuchen.
So kam sie mit dem Wunsch in die Beratung, «endlich eine Lösung für mein Matheproblem zu finden», wie sie später in einem Rückblick festhielt. Während der Beratungssitzungen wurden betriebliche und schulische Berechnungsaufgaben analysiert, mögliche Vorgehensweisen besprochen, Übungen gelöst und das Vorgehen reflektiert (Beispiele finden sich auf → Seite 140 ff.). Anna baute Kompetenzen auf, dank denen sie ihre Noten im Fachzeichnen und im berufskundlichen Rechnen verbessern konnte. Nach Beendigung der befristeten und individuell auf sie zugeschnittenen Lernberatung besuchte Anna freiwillig das an der Berufsfachschule angebotene Trainingsmodul1.
Anna schloss ihre Ausbildung zur Innendekorationsnäherin erfolgreich ab und arbeitete ein Jahr im erlernten Beruf. Dann wagte sie, gestärkt durch ihre Erfahrungen, eine Zweitausbildung und weitete dabei ihren ursprünglichen Wunsch, Floristin zu werden, noch aus, weil sie erkannte, dass ihr der Beruf der Zierpflanzengärtnerin mehr zu bieten hatte.
Noch vor Redaktionsschluss dieses Buches schrieb uns Anna folgende SMS:
Ich habe nun auch meine zweite Ausbildung mit 4,9 erfolgreich abgeschlossen. Ich werde nach der Lehre in der Firma bleiben und die Abteilung wechseln. Ich arbeite dann zu achtzig Prozent in der Dekoration und entwerfe Schalen. Zu einem kleinen Teil werde ich zudem im Büro arbeiten. Ich freue mich auf diese Arbeit!
An Annas Erfahrung wollen wir exemplarisch darstellen, wie sich das Leben eines jungen Menschen verändern kann, wenn es gelingt, Schwierigkeiten beim Lernen zu erkennen, deren Ursachen aufzudecken und entsprechende Massnahmen zur Förderung einzuleiten. Anstelle von Annas Geschichte könnten auch die Geschichten von Myriam, Yvonne, Aline, Dragana, Joshua, Mirko oder Samuel stehen, die Berufe wie Restaurationsfachangestellte, Floristin, Coiffeuse, textile Gestalterin, Schreiner, Gärtner oder Koch erlernen und aus unterschiedlichen Gründen Schwierigkeiten haben, die erforderliche Leistung insbesondere im schulischen