Autonomie
Bei der Autonomie geht es in diesem Lebensabschnitt hauptsächlich um ein Neuaushandeln der Beziehungen zu den Eltern, weg von einer abhängigen hin zu einer selbstbestimmten und gleichberechtigten Beziehung. Dies beinhaltet auch, dass junge Menschen Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und beispielsweise lernen,
•sich ihre Tageszeit selbst einzuteilen;
•ihr Konsumverhalten dem verfügbaren Geld anzupassen;
•Verlockungen wie beispielsweise Alkohol- oder Drogenkonsum zu widerstehen;
•ihren Umgang mit elektronischen Medien zu regeln usw. (vgl. auch Flammer & Alsaker, 2011, S. 93 ff.).
Abbildung 1-6
Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz nach Havighurst – dargestellt unter der Perspektive des Übergangs zwischen Kindheit und frühem Erwachsenenalter (Oerter & Montada, 2008, S. 281)
Die vorangehenden Ausführungen zeigen, dass die Zeit des Übergangs an der «ersten Schwelle» für junge Menschen auch aus entwicklungspsychologischer Perspektive mit vielen Veränderungen und Neuorientierungen verbunden ist. Konkrete Hinweise für einen verständnisvollen Umgang mit jungen Menschen in der Phase dieses Übergangs finden sich bei Lauper und De Boni (2012). Für Berufsbildnerinnen und Berufsbildner ist etwas entwicklungspsychologisches Grundwissen wichtig und hilfreich, damit sie ihre Ausbildungsverantwortung für Lernende professionell wahrnehmen können. Dies trifft insbesondere für die Phase der Früherfassung (→ Kapitel 2) zu, in der es darum geht, die Ausbildungsvoraussetzungen der Lernenden mit den Anforderungen des gewählten Berufes zu vergleichen und darauf aufbauend entsprechende Fördermassnahmen einzuleiten.
1.3.2Biografien von jungen Menschen im Übergang
Verschiedene Studien liefern uns Erkenntnisse darüber, wie die Situation an der «ersten Schwelle» von jungen Menschen erlebt und bewältigt wird und welche Faktoren dabei mitbestimmend sind. Am Ende dieses Kapitels ist dokumentiert, wie Anna, die junge Frau, die wir in diesem Buch auf ihrem «Weg des Lernens» begleiten, diesen Übergang erlebt hat. Aus einzelnen Studien, wie beispielweise den Forschungsprojekten «Berufswahlprozess bei Jugendlichen» (Herzog, Neuenschwander & Wannack, 2004, 2006) und «Familie-Schule-Beruf (FASE B)» (Neuenschwander et al., 2012) oder aus dem Kinder- und Jugendsurvey «COCON Competence and Context» (Bayard Walpen, 2013), liegen sprachregionale Längsschnittdaten über Bildungsverläufe von Heranwachsenden aus der Schweiz vor, die Berufswahlprozess, Lebensverhältnisse und psychosoziale Entwicklung untersuchen. Die Erkenntnisse aus diesen Studien unterstützen uns dabei, die Lernenden zu verstehen, wenn sie in die berufliche Ausbildung eingetreten sind, und sind deshalb wichtig für die Phase der Früherfassung, wie wir sie in → Kapitel 2 beschreiben.
Das im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Bildung und Beschäftigung» (NFP43) durchgeführte Forschungsprojekt «Berufswahlprozess bei Jugendlichen» begleitete 1440 Jugendliche aus den Kantonen Basel-Landschaft, Bern, Luzern und Solothurn von 2000 bis 2002 über drei Messzeitpunkte hinweg in ihrem Berufswahlprozess.
Das Forschungsprojekt «Familie-Schule-Beruf (FASE B)» untersuchte von 2002 bis 2008 die Bildungsverläufe von 1153 Jugendlichen aus den Kantonen Bern, Zürich und Aargau. Zum ersten Erhebungszeitpunkt befanden sich die Schülerinnen und Schüler in der sechsten und achten Klasse der Sekundarstufe I, der vierte Erhebungszeitpunkt fokussierte das Ende der nachobligatorischen Ausbildung und den Übertritt ins Erwerbsleben.
Der Kinder- und Jugendsurvey «COCON Competence and Context», gestartet im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen im gesellschaftlichen Wandel» (NFP52), erforscht die Wechselwirkungen zwischen sozialem Umfeld, individueller Kompetenzentwicklung und Bewältigung von wichtigen Übergängen aus einer Lebenslaufperspektive. Seit 2006 bis voraussichtlich 2016 werden 3000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus einzelnen Kantonen der deutsch- und französischsprachigen Schweiz in insgesamt neun Erhebungswellen befragt.
In den folgenden Abschnitten werden ausgewählte Erkenntnisse aus den drei Studien vorgestellt.
1.3.3Sechs-Phasen-Modell der Berufsorientierung
Das Sechs-Phasen-Modell nach Herzog, Neuenschwander und Wannack (2004, 2006) unterscheidet sechs idealtypische Phasen der Berufswahl, die sich jeweils durch besondere Entscheidungen voneinander abgrenzen (vgl. Abb. 1-7).
Nach einer ersten Phase der diffusen Berufsorientierung, bei der Jugendliche noch keine konkreten Berufswünsche haben, folgt eine Phase der Konkretisierung der Berufsorientierung. Hier werden konkrete Vorstellungen entwickelt und Entscheidungen zur nachobligatorischen Ausbildung getroffen. In einer dritten Phase geht es darum, die Suche nach einem Ausbildungsplatz aufzunehmen. Wenn ein solcher Platz gefunden und, im Falle einer beruflichen Grundbildung, ein Lehrvertrag abgeschlossen ist, folgt in einer vierten Phase die Konsolidierung der Berufswahl. In dieser Phase wird die Entscheidung für einen Beruf entweder verfestigt oder aufgrund von Erfahrungen verändert. Auf diese Phase, in der sich die Lernenden zu Beginn der Berufsausbildung befinden, werden wir in → Kapitel 2.1 noch etwas näher eingehen. Die fünfte Phase, die eigentliche Berufsausbildung, umfasst den Verlauf einer schulischen oder beruflichen Ausbildung. Phase 6, Eintritt ins Erwerbsleben, beschreibt die Integration in den Arbeitsmarkt.
Abbildung 1-7
Phasen der Berufswahl (Herzog, Neuenschwander & Wannack, 2006, S. 41)
Die Ergebnisse der Studie «Berufswahlprozess bei Jugendlichen» zeigen auf der Grundlage des Sechs-Phasen-Modells auf, dass Jugendliche versuchen, einen Beruf ihrer Wahl zu erlernen. Sie bemühen sich aktiv um ihre Berufswahl und beschaffen sich die dafür nötigen Informationen. Sie sind dabei jedoch je nach Schultyp und -niveau bestimmten Einschränkungen ausgesetzt. Vor allem für Schülerinnen und Schüler aus Klassen mit Grundansprüchen ist die Auswahl bei der Suche nach einer Lehrstelle begrenzt (→ Abschnitte 1.1.1 und 1.1.2), sodass viele nach Ablauf der obligatorischen Schulzeit ein Brückenangebot als Zwischenlösung anvisieren.
Neuenschwander, seine beiden Mitautorinnen und sein Mitautor konnten im Rahmen ihrer Längsschnittstudie «Familie-Schule-Beruf (FASE B)» vier Entscheidungsmuster der Jugendlichen beim Entscheid für einen nachobligatorischen Ausbildungsplatz feststellen (Neuenschwander et al., 2012, S. 170 f.):
Traumberuf – Die Frühentschiedenen
Diese wenigen Jugendlichen favorisieren sehr früh einen Beruf, fokussieren ihre Interessen entsprechend und planen ihre Ausbildung so, dass sie ihren Berufswunsch realisieren können.
Rationales Abwägen
Die Entscheidung erfolgt aufgrund eines Abwägungsprozesses, in den verschiedene subjektiv bedeutsame Faktoren miteinbezogen werden, wie eigene Fähigkeiten und Interessen, Attribute des Berufes wie Kompetenzprofil, Präferenz für ein bestimmtes Arbeitsmaterial oder bestimmte «Arbeitsobjekte» wie Kunden, Kinder, Team-/ oder Einzelarbeit usw. Im Weiteren können Arbeitsmarktchancen, der erwartete Lohn, das Berufsprestige, die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit oder zur Vereinbarkeit von Berufsarbeit mit Kinderbetreuung eine Rolle spielen.
Spontanes Entscheiden