Die vorangehenden Ausführungen zeigen, dass dem Thema Lernortkooperation in der beruflichen Bildung in der Schweiz bisher noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Lernortkooperation ist zwar erwünscht, ihre Bedeutung ist erkannt, jedoch ist sie noch nicht wirklich umgesetzt, Prozesse und Verantwortlichkeiten sind nicht geklärt. Zudem müssen bezüglich Kooperation verschiedene Ebenen differenziert werden. Einerseits bezieht sich Kooperation auf eine übergeordnete Ebene, wie beispielsweise im Rahmen der (Reform-)Prozesse. Hier ist es Aufgabe der Verbundpartner, einen Schwerpunkt zu setzen und Verbindlichkeiten zu definieren. Andererseits geht es auf der Ebene einer konkreten Zusammenarbeit der Berufsbildenden der verschiedenen Lernorte um eine im Ausbildungsalltag gemeinsam getragene Verantwortung und Verpflichtung zur optimalen Förderung der einzelnen Lernenden.
An dieser Stelle setzt das vorliegende Buch an: Es zeigt, wie eine solche Förderung von Berufsbildnerinnen und Berufsbildnern der drei Lernorte gemeinsam und auf jeden Lernort angepasst umgesetzt werden kann.
1.2.2Wie funktioniert gute Lernortkooperation?
Wichtige Erkenntnisse über Lernortkooperation liefert der Modellversuch KOLIBRI «Kooperation der Lernorte in der beruflichen Bildung» in Deutschland. Aus diesem Modellversuch resultieren zwei Handbücher zur Lernortkooperation mit theoretischen Grundlegungen und praktischen Erfahrungen (Euler, 2004a, 2004b). Als Haupterkenntnis hat sich herauskristallisiert, dass eine erfolgreiche Lernortkooperation bestimmte institutionelle und personelle Rahmenbedingungen voraussetzt (Diesner et al., 2004, S. 2). Dabei ist die Entwicklung einer Kooperationskultur grundlegend für eine funktionierende Zusammenarbeit der Lernorte. Als förderliche Faktoren für eine gute Kooperationskultur haben sich Vertrauen, Respekt und Wertschätzung, Gelegenheit zu Kontakt, Austausch und Kommunikation, Selbstvertrauen als Basis für Fremdvertrauen, Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten, kooperationsrelevante Problemstellungen, Handlungsspielräume der Beteiligten, langfristig ausgerichtete Beziehungen sowie überschaubare Gruppengrössen bewährt (Euler, 2004c).
Landwehr unterscheidet vier Varianten des Zusammenspiels der Lernorte, die er Koexistenz, Koordination, Kooperation und Integration nennt (Landwehr, 2002, S. 39):
•Koexistenz: Die Lernorte funktionieren als in sich geschlossene Lernsysteme, mit je eigenen Zielvorgaben und eigenem Prüfungswesen; es gibt zeitliche Vorgaben für jeden Lernort, eine inhaltliche Absprache findet indessen nicht statt.
•Koordination: Die Lernorte koexistieren relativ unverbunden nebeneinander. Die Ausbildungskonzepte werden inhaltlich aufeinander abgestimmt. Wechselseitige Information wird sporadisch gepflegt, damit bei Schwierigkeiten gemeinsam Lösungsstrategien entwickelt werden können.
•Kooperation: Die Lernorte verstehen sich als Partner im gemeinsam getragenen Ausbildungsgang. Es gibt grobe inhaltliche Absprachen, die Ausbildungsziele und -schwerpunkte werden gegenseitig offengelegt; die Vermittlung der Inhalte in Theorie und Praxis erfolgt koordiniert. Ein regelmässiger Erfahrungsaustausch ist institutionalisiert.
•Integration: Es existiert eine für alle Lernorte gemeinsame, lernortübergreifende Ausbildungsleitung und ein gemeinsames Ausbildungsprogramm. Das Lernen an den verschiedenen Lernorten orientiert sich an denselben Phasenzielen; in diesem Rahmen werden die konkreten Ausbildungsziele abgesprochen und gemeinsam festgelegt.
Die in → Abschnitt 1.2.1 dargestellten aktuellen Formen von Zusammenarbeit zwischen den Lernorten in der Schweiz lassen sich in der Landwehr’schen Definition wohl am besten zwischen Koordination und Kooperation verorten; von der Integration, die es anzustreben gilt, sind wir zumeist noch weit entfernt. Es bleibt zu hoffen, dass hier zukünftige Entwicklungsschwerpunkte gesetzt werden.
1.2.3Weitere Orientierungspunkte für gute Kooperation
Anregungen für ein von allen Beteiligten getragenes und unterstütztes Zusammenarbeiten in der Begleitung und Förderung von Lernenden finden sich im Verfahren «Schulische Standortgespräche» des Kantons Zürich (Hollenweger & Lienhard, 2009). Dabei werden im Rahmen eines «runden Tisches» regelmässig die Beobachtungen aller am Förderprozess Beteiligten (Schüler/in, Eltern, Lehrpersonen, Fachpersonen) zusammengetragen, gemeinsame Entscheide gefällt und Förderziele definiert. Es handelt sich um ein standardisiertes Verfahren, das zum Ziel hat, durch den Austausch aller Beteiligten ein gemeinsames Problemverständnis zu entwickeln, spezifische Fördermassnahmen für jede Schülerin und jeden Schüler festzulegen, durchzuführen und zu überprüfen. Federführend für das Einberufen und die Organisation eines Standortgespräches ist die Lehrperson. Die Grundidee des Verfahrens der schulischen Standortgespräche lässt sich auf die berufliche Grundbildung übertragen, indem (regelmässige) Gespräche zwischen lernender Person und Ausbildungsverantwortlichen aller Lernorte institutionalisiert werden könnten (→ Kapitel 2.7). Damit wäre ein wichtiger Grundstein für die Lernortkooperation gelegt.
1.3Ein entwicklungspsychologischer Blick
Die Phase des Eintritts in eine berufliche Grundbildung ist geprägt durch vielfältige Herausforderungen – persönliche Entwicklungsaufgaben und einschneidende Veränderungen im Lebens- und Berufsalltag stehen an. Die folgenden Abschnitte geben einen Einblick, wie junge Menschen die Herausforderungen in dieser Lebensphase angehen und meistern.
1.3.1Entwicklungsaufgaben im Jugend- und frühen Erwachsenenalter
Das psychologische Konzept der Entwicklungsaufgaben nach Havighurst (1948) schreibt jeder Lebensphase bestimmte Aufgaben zu, die ein Individuum erfolgreich meistern muss, damit Glück und Erfolg gewährleistet und gesellschaftliche Ablehnung und persönliches Versagen verhindert werden. Die Aufgaben können als kulturell und gesellschaftlich definierte Anforderungen und Erwartungen verstanden werden, denen man sich in bestimmten Lebensphasen stellen muss. Damit ist sowohl eine individuelle, persönliche als auch eine normative, von der Gesellschaft vorgegebene Dimension angesprochen.
In der Zeit des Übergangs von der obligatorischen in die nachobligatorische Ausbildung befinden sich junge Menschen aus entwicklungspsychologischer Perspektive in der Adoleszenz ( 12 bis 18 Jahre) oder im frühen Erwachsenenalter (18 bis 30 Jahre). Wie in Abbildung 1-6 ersichtlich wird, gelten als wichtige Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz die Ablösung von den Eltern, die Identifizierung mit der eigenen Geschlechtsrolle, das Verinnerlichen eines moralischen Bewusstseins sowie die Berufswahl. Die relevanten Entwicklungsaufgaben des frühen Erwachsenenalters beziehen sich hauptsächlich auf die Neuorganisation des sozialen Umfeldes sowie auf den Einstieg in einen Beruf (vgl. ebd.). Die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben führt zu einer Sozialisation der jungen Menschen in unterschiedliche Rollen – Berufsrolle, Partner- oder Familienrolle, Rolle als Mitglied der Gesellschaft usw. Dabei sind hauptsächlich zwei Prozesse bestimmend, die Identitätsentwicklung (Selbstfindung) sowie die Autonomieentwicklung (Eigenständigkeit, Selbstständigkeit).
Identität
Die Neuorientierungen, mit denen junge Menschen in der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter konfrontiert werden, führen dazu, dass das bisherige Selbstkonzept infrage gestellt wird. In einem Selbstfindungsprozess werden